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Von Emotionen, Füchsen und einem Zirkus - Wie es gelingt, Trainingsprogramme an Gefühle anzupassen

Die App „Zirkus Empathico“ im Einsatz. Foto: Prof. Dr. Ulrike Lucke.
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Die App „Zirkus Empathico“ im Einsatz. Foto: Prof. Dr. Ulrike Lucke.

Sie gehören zu unserem Leben – jeden Tag, ohne Ausnahme, sind wir mit ihnen konfrontiert: Emotionen. Doch je älter Menschen werden, umso schlechter erkennen sie oftmals negative Gefühle. Und natürlich gewinnt neben der Kommunikation im persönlichen Umgang miteinander die Interaktion mithilfe von Bildtelefonen, Avataren und anderen digitalen Medien eine zunehmende Bedeutung. Hierbei brauchen ältere Menschen, aber auch Menschen mit Autismus, deren sozial-kognitive Fähigkeiten beeinträchtigt sind, besondere Unterstützung. Dieser Herausforderung stellen sich Potsdamer Informatiker. Sie entwickeln ein Trainingssystem, mit dessen Hilfe das Aussenden und Verstehen emotional-kommunikativer Signale geübt werden kann.

Das neue Trainingssystem setzt auf die Entwicklung von Modellen für die automatische Erkennung von Emotionen, wie Langeweile, Frustration und Interesse auf der Basis von Mimik, Gestik, Blickrichtung sowie physiologischer Erregung. Während des Trainings am Computer werden diese Signale genutzt, um sowohl ein direktes Feedback zu erhalten, als auch Aufgabenschwierigkeit und Kontext an den jeweiligen Nutzer anzupassen.

Die Bedürfnisse der Nutzer sind entscheidend

„Das Training soll Menschen mit Autismus und älteren Menschen helfen, Emotionen besser zu erkennen und auszudrücken, um sie auf diese Weise im Umgang mit Kommunikationstechnologien zu stärken“, sagt Prof. Dr. Ulrike Lucke. Ziel sei es, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für beide Gruppen entscheidend zu verbessern.

„Wir arbeiten schon länger mit E-Learning-Systemen und haben uns in den letzten Jahren immer wieder mit deren Adaptivität auseinandergesetzt“, ergänzt sie. Die Wissenschaftlerin und ihr Team widmen sich der Frage, wie sich solch ein System automatisch individuell anpassen kann. So kann es beispielsweise sinnvoll sein, dass nicht alle Studierenden ihre Übungsaufgaben in der gleichen Reihenfolge abarbeiten, sondern so, wie es für jeden einzelnen am effektivsten ist. „Wir passen das System an die Bedürfnisse der Nutzer an und nicht umgekehrt.“

Schon in früheren Projekten beschäftigte sich Ulrike Lucke mit Software für Menschen mit Behinderung, beispielsweise für Blinde. Durch die Zusammenarbeit mit Psychologen der Humboldt-Universität zu Berlin (HU), die Emotionen bei Menschen mit Autismus untersuchen, entstand die Idee, eine emotionsadaptive Software zu gestalten. Gefördert wird das Projekt „EMOTISK – Emotionssensitive Systeme zum Training sozialer Kognition“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, die HU koordiniert es. Die Potsdamer sind die einzigen Technikwissenschaftler in diesem Netzwerk. Die Zusammenarbeit mit Psychologen fasziniert und inspiriert Ulrike Lucke.

Training für Menschen mit Autismus

Aus dem Vorgängerprojekt existiert bereits eine relativ statische Trainingssoftware. Nutzer berichteten, dass sie sich damit langweilten, frustriert waren und sich unter- oder überfordert fühlten. Der Grund: Immer gleiche Abläufe wiederholten sich. Ein Trainingserfolg stellte sich nur bedingt ein, weil die Software nicht auf die individuellen Bedürfnisse und Erfordernisse des jeweiligen Nutzers zu reagieren vermag.

Das wollen die Informatiker nun mit dem neuen Trainingsprogramm für Emotionen ändern. Menschen mit Autismus können damit das für sie schwierige Erkennen, Ausdrücken und Aussenden von emotionalen Signalen trainieren. Sie lernen, bestimmten Situationen eigene Emotionen zuzuordnen, aus fremden Gesichtsausdrücken die Gefühle anderer abzuleiten, Emotionen im sozialen Miteinander zu erfassen und darauf zu reagieren. „Unser Ziel ist, diese Übungsaufgaben so zu individualisieren, dass sich ihr Schwierigkeitsgrad an die Reaktion des Menschen vor dem Bildschirm anpasst“, sagt die Informatikerin.

Frust ist beispielsweise eine Emotion, mit der sich einige Wissenschaftler aus dem Team speziell befassen. Bei Frust reagiert der gesamte Körper, aber sehr individuell. „Wir nehmen die verschiedenartigen Signale auf, die die Lerner vor dem Bildschirm aussenden und passen die Software daraufhin an.“ Das bedeutet herauszufinden, ob schwierigere oder leichtere Aufgaben benötigt werden, um Über- oder Unterforderung zu vermeiden. Dazu muss der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben klassifiziert und bei ihrer Auswahl berücksichtigt werden.

Eine Besonderheit des Trainingsprogramms ist, dass dabei nicht mit abstrakt ausgedrückten Emotionen, wie Fotos oder Zeichnungen, gearbeitet wird. Stattdessen kommen Videos zum Einsatz, in denen „echte“ Menschen ihre „echten“ Gefühle zeigen. Diese Herangehensweise wirkt sehr viel natürlicher. Deshalb ist die Übertragbarkeit auf den Alltag wesentlich einfacher und der Lerneffekt viel größer. Der vom Projektpartner an der HU stammende riesige Fundus an Emotions-Videos ist ein großer Schatz für die Entwicklung des neuen Systems.

Üben mit Zirkus Empathico

Für Kinder mit Autismus hat das Team ein besonderes Programm erarbeitet, ebenfalls gemeinsam mit den Psychologen der HU. Unter Begleitung ihrer Eltern trainieren sie, kindgerecht und ohne Text aufbereitet, emotionsbasiertes Sozialverhalten. Ein Fuchs erklärt die Welt, Zirkus Empathico lädt zum Verweilen ein. Seit Sommer vergangenen Jahres gibt es eine entsprechende App, die bei einer klinischen Studie unter Kindern mit Autismus zum Einsatz kommt. Erste Ergebnisse zeigen positive Effekte. „Das macht mich natürlich glücklich“, sagt Ulrike Lucke.

Bis zum Ende von EMOTISK im Jahr 2018 möchten Ulrike Lucke und ihre Mitstreiter das bisherige statische Trainingssystem wie geplant weiterentwickelt haben. Die im Laufe des Projekts gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse sollen auf andere Software übertragbar sein. Nicht nur Nutzer mit Autismus oder ältere Menschen, sondern auch Studierende sitzen oft frustriert vor dem Computer. Der Transfer auf andere Anwendungsszenarien bildet also eine wichtige Aufgabe für das Team. In das sind übrigens auch Studierende einbezogen. Sie erhalten konkrete Programmieraufgaben an praxisrelevanten Beispielen. „Daraus entstehen spannende Ideen und Vorschläge“, meint Ulrike Lucke. Zudem fungieren die angehenden Informatiker nicht nur als Entwickler, sondern auch als Tester für Systeme und sammeln Erfahrungen beim Umgang mit unfertiger Software. „Dieser Perspektivwechsel ist für uns Informatiker sehr hilfreich und wichtig.“

 

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr.-Ing. habil. Ulrike Lucke studierte Informatik an der Universität Rostock. Seit 2010 ist sie Professorin für Komplexe Multimediale Anwendungsarchitekturen und Chief Information Officer (CIO) an der Universität Potsdam. Gemeinsam mit dem Soziologen Alexander Knoth erhielt sie den brandenburgischen Landeslehrpreis 2016.

Universität Potsdam
Institut für Informatik und Computational Science
August-Bebel-Str. 89, 14482 Potsdam
Email: ulrike.luckeuni-potsdamde

 

Das Projekt

Emotionssensitive Systeme zum Training sozialen Verhaltens (EMOTISK) Beteiligt: Humboldt-Universität zu Berlin, Technische Universität Dresden, RWTH Aachen, Universität Köln, Universität Potsdam Laufzeit: 2015–2018

Text: Dr. Barbara Eckardt
Online gestellt: Daniela Großmann
Kontakt zur Onlineredaktion: onlineredaktionuni-potsdamde