Depression ist keine Randerscheinung mehr, es ist eine Volkskrankheit. Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass gegenwärtig rund vier Millionen Menschen in Deutschland von einer depressiven Störung betroffen sind, weltweit sind es insgesamt rund 350 Millionen. Ein Team von Psychologen und Medizinern der Universität Potsdam will nun herausfinden, welchen „Einfluss unterschiedliche Behandlungssettings auf den Therapieerfolg“ haben. Im Idealfall bietet die Studie Rückschlüsse darauf, wie und vor allem wo Menschen mit depressiven Erkrankungen am besten behandelt werden sollten.
Depressionserkrankungen nehmen zu
Fast jeder fünfte Deutsche erleidet im Laufe seines Lebens eine depressive Episode. Längst sind Depressionen zur besonderen Herausforderung für die Gesellschaft, vor allem aber das Gesundheitssystem geworden: Krankheitstage aufgrund von depressiven Erkrankungen nehmen kontinuierlich zu, die Zahl frühzeitiger Verrentungen hat sich in der Zeit von 2000 bis 2009 verdoppelt. Während bei einem Großteil der Betroffenen, zwischen 25 und 40 Prozent, die depressive Erkrankung nur einmalig auftritt, erleben andere mehrere Krankheitsphasen; bei rund 10 bis 15 Prozent nimmt sie sogar einen chronischen Verlauf. Gerade für sie ist Depression nicht selten Ursache für ein frühzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf. Für den Sozial- und Präventivmediziner Prof. Dr. Michael Rapp von der Universität Potsdam ist dieser Befund so unbefriedigend wie unerklärlich: „Das ist schwer nachzuvollziehen. Eigentlich ist Depression die Krankheit, die Psychiater und Psychotherapeuten am besten behandeln können. Die ‚Erfolgsquote‘ liegt bei bis zu 80 Prozent.“ Tatsächlich sei es so, dass viele von denen, die einen Antrag auf Frühverrentung stellen, mitunter jahrelang gar nicht in Behandlung waren – und denken, dass ihre Krankheit gar nicht therapierbar ist. „Doch das stimmt nicht – und wird im Fall einer Verrentung sehr teuer.“
Einfache Erklärungen dafür, warum depressive Erkrankungen zunehmen, gibt es nicht. Zu komplex ist das Problem. So dürfte einerseits die Entstigmatisierung von depressiven Störungen dazu geführt haben, dass mehr und mehr Betroffene sich überhaupt erst in Behandlung begeben. Zugleich können viele aufgrund von Versorgungsproblemen nicht angemessen behandelt werden. So kommt es immer wieder vor, dass Patienten aufgrund fehlender Kapazitäten „nur“ medikamentös und nicht in der Psychotherapie oder haus- anstatt fachärztlich betreut werden. Andererseits gilt als möglich, dass wir heute mehr schädlichen, Stress verursachenden Reizen – sogenannten Stressoren – ausgesetzt sind, wodurch die Entstehung depressiver Erkrankungen befördert wird. Was ihre adäquate Behandlung so schwierig macht, ist die – augenscheinlich steigende – Vielzahl von zusammenwirkenden Faktoren. Daher gilt es letztlich, für jeden Patienten die passende Therapieform zu finden. „Bei vielen Erkrankungen würde man intuitiv davon ausgehen: Wenn sie lange bestehen, geht man am besten in eine Reha-Klinik und nicht in ambulante Behandlung“, so Rapp. „Für depressive Erkrankungen lässt sich eine solche Aussage bislang nicht treffen.“
Die Kunst der richtigen Therapie
An dieser Stelle setzt die Studie der Potsdamer Wissenschaftler an. „Wir wollen herausfinden, welche Therapieform für welche Patienten am besten geeignet ist – und damit einen ersten Schritt hin zu einem Behandlungsansatz ermöglichen, der von Beginn an auf jeden Einzelnen zugeschnitten ist“, erklärt die Gesundheitssoziologin Prof. Dr. Pia-Maria Wippert, die das Projekt gemeinsam mit Michael Rapp leitet. Genauer gesagt interessiert die Wissenschaftler der Einfluss unterschiedlicher Behandlungssettings auf den Therapieverlauf. „Stationär in einer Reha-Klinik oder ambulant, etwa in einer Fachambulanz oder einer Arztpraxis – der Ort der Behandlung beeinflusst wesentlich die Therapiemaßnahmen und Durchführung“, so Wippert. Ob diese Unterschiede sich auch auf den Verlauf und letztlich den Erfolg einer Therapie auswirken, soll die Potsdamer Studie mit dem Titel „DepReha“ zeigen, bei der die Forscher mit der Rehaklinik Neu Fahrland, der Hochschulambulanz der Freien Universität Berlin und einer Nervenarztpraxis kooperieren. Diese Nähe zur Praxis ist das Besondere und auch für die Forscher Reizvolle an der Potsdamer Studie, wie Andreas Häusler betont, der im Team von Michael Rapp Patienten der Ambulanz betreut: „Es ist eben kein Projekt, das isoliert in einem Labor durchgeführt wird, sondern sehr realitätsnah. Wir treffen die Teilnehmenden in den Einrichtungen und begleiten sie eine Zeit lang. So haben wir die Chance, uns der Versorgung depressiver Patienten aus zwei Perspektiven zu nähern – wissenschaftlich und praktisch.“
Stress ist an den Haaren „ablesbar“
Insgesamt werden rund 200 Probanden in einer Längsschnittstudie über einen Zeitraum von zwei Jahren untersucht – und zwar physiologisch und psychologisch. „Es kommt eine sehr breite Messbatterie zum Einsatz, deren statistische Auswertung helfen soll, die komplexen Zusammenhänge zu erfassen und Schlüsse daraus zu ziehen“, erklärt Michael Rapp.
In allen drei Einrichtungen werden Patienten, die neu aufgenommen bzw. behandelt werden und für eine Teilnahme infrage kommen, zur Studie eingeladen. „Bei einer Informationsveranstaltung stellen wir dann das Projekt vor und beantworten Fragen“, erklärt Andrea Block vom Team um Pia-Maria Wippert das Vorgehen in der Rehaklinik Neu Fahrland. Patienten, die teilnehmen wollen und die Einschlusskriterien erfüllen, werden dann in der Klinikroutine Blutproben zu den Stressmarkern entnommen. Darüber hinaus erfolgt am nächsten Tag die Entnahme einer Haarprobe. „Die Blut- und Haarproben geben uns Einblick in das Stressniveau der Probanden“, so Pia-Maria Wippert. „Und zwar nicht nur zum Zeitpunkt der Messung. Anhand der Haarprobe lässt sich die Stressentwicklung der vergangenen drei Monate ablesen, da sich das Stresshormon Cortisol in den Haaren ablagert.“
Die psychologische Erhebung erfolgt in Form von Fragebögen, mit denen u.a. Daten zur Depressivität, zu Symptomen psychischer Störungen und zu positiven und negativen affektiven Zuständen, aber auch der sogenannte Work Ability Index und der Stress erfasst werden. Dazu kommen ein Gesundheitsfragebogen sowie die Aufnahme relevanter soziodemografischer Daten.
Diese Untersuchung wird direkt im Anschluss an die Behandlung sowie nach fünf und acht Monaten wiederholt, um Vergleichswerte zu erhalten. „Im Längsschnitt wird erforscht, ob das Behandlungssetting Einfluss auf den Therapieerfolg hat: Konnte der Stress reduziert werden? Wie entwickelt sich die Depressionssymptomatik? Und gelingt die Wiedereingliederung in die Arbeit?“, so Andrea Block. Aber auch schon die Auswertung der Informationen des ersten Messpunktes bietet wertvolle Aufschlüsse, und zwar zur Versorgungssituation, wie Andrea Block erklärt: „In Querschnittsanalysen können wir schauen, welche Patienten mit welchen Beschwerden bzw. welchem Beschwerdegrad bei welchem Behandlungssetting vertreten sind. Anders gesagt: Wohin gehen Menschen mit welcher depressiven Erkrankung?“
Risikoprofile könnten helfen, das richtige Behandlungssetting zu finden
Erkenntnisse wie diese sind gerade für das Gesamtziel der Studie von Bedeutung: Immerhin soll DepReha im Idealfall Ärzte und Therapeuten in die Lage versetzen, Patienten Empfehlungen zum für sie passenden Behandlungssetting zu geben. „Wir hoffen, bestimmte Risikoprofile ausfindig zu machen“, sagt Andreas Häusler. „Diese könnten dabei helfen, den Behandlungserfolg für bestimmte Patientengruppen zu optimieren. So ist es durchaus möglich, dass beispielsweise Patienten mit einer hohen Stressbelastung in einem der drei Settings am besten aufgehoben sind.“
Gegenwärtig läuft noch die Erhebung der Daten – und die ist ebenso komplex wie das Problem. Dies erfordert nicht zuletzt eine ständige Abstimmung der einzelnen Teams, die in den beteiligten medizinischen Einrichtungen die Untersuchungen vornehmen. „Alle 14 Tage kommen wir zusammen, um Fragen und Probleme zu besprechen, Lösungswege zu suchen und Aufgaben zu verteilen“, so Andrea Block.
Erste belastbare Ergebnisse wird es frühestens Mitte 2017 geben, wenn die weiteren Messpunkte passiert wurden und die Auswertung beginnen kann. „Man lernt, geduldig zu sein“, sagt Michael Rapp. „Es bringt nichts, vorzeitig unvollständige Daten auszuwerten und Schlüsse zu ziehen, die sich später nicht bestätigen lassen.“ Diese Geduld brauchen die Wissenschaftler, gerade bei einer Langzeitstudie wie dieser. Bis zu fünf Jahre nach der zweijährigen Hauptstudie werden von den Patienten noch Daten erfragt, um mögliche Langzeiteffekte der verschiedenen Behandlungsmethoden genau beurteilen zu können. Ihr Fernziel verlieren die Forscher dabei nie aus den Augen: „Am Ende sollen unsere Untersuchungen helfen, bestehende Versorgungsnetzwerke und individuelle Therapieangebote zur Wiedereingliederung von Patienten mit depressiven Erkrankungen zu verbessern“, sagt Pia-Maria Wippert. „Und das bedeutet: Selbst wenn sich am Ende herausstellt, dass das Setting keinen Einfluss auf den Behandlungsverlauf hat, wäre das ein wichtiges Ergebnis, das Patienten und Medizinern hilft“, fügt Michael Rapp hinzu.
Das Projekt
DepReha – Einfluss unterschiedlicher Behandlungssettings auf den Therapieerfolg
Leitung: Prof. Dr. Michael Rapp, Prof. Dr. Pia-Maria Wippert (beide Universität Potsdam)
Beteiligt an der Universität Potsdam u.a.: Andrea Block und Andreas Häusler; Heinrich-Heine-Klinik in Neu Fahrland, Hochschulambulanz der Freien Universität Berlin, Psychiatrische Praxis Dr. Bohlken Berlin-Spandau Finanzierung: DRV Berlin-Brandenburg
Laufzeit: 2015–2017
Die Wissenschaftler
Prof. Dr. Pia-Maria Wippert hat seit 2010 an der Universität Potsdam die Professur für Sport- und Gesundheitssoziologie inne. Sie ist spezialisiert auf Risikostratifizierungen stressassoziierter Erkrankungen und die Entwicklung von Interventionen.
Universität Potsdam
Department Sport- und Gesundheitswissenschaften
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
Email: pia-maria.wippertuuni-potsdampde
Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael A. Rapp ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Professor für Sozial- und Präventivmedizin an der Universität Potsdam. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Prädiktoren und Bedingungsgefügen seelischer Gesundheit über die Lebensspanne.
Email: michael.rappuuni-potsdampde
Andrea Block studierte Psychologie an der Universität Greifswald. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Sport- und Gesundheitssoziologie.
Email: andrea.blockuuni-potsdampde
Andreas Häusler studierte Psychologie an der TU Berlin. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Sozial- und Präventivmedizin.
Email: andreas.haeusleruuni-potsdampde
Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Daniela Großmann
Kontakt zur Onlineredaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde