Zum Hauptinhalt springen

Lola forscht – Wie Ultraschall und Videoanalyse die Sprachwissenschaft voranbringen

Dr. Aude Noiray. Foto: Karla Fritze.
Foto :
Dr. Aude Noiray. Foto: Karla Fritze.

Der Astronaut schnallt sich an und drückt sich tiefer in seinen Pilotensessel, er ist bereit. Dann hebt die Rakete ab. Die Erde verschwindet langsam, während der Mars immer größer wird und ganz entfernt Jupiter in Sicht kommt. Die Reise beginnt … Was wie ein Weltraumabenteuer klingt – und auch aussieht –, findet eigentlich in einem kleinen, liebevoll prototypisch konstruierten Labor auf dem Uni-Campus in Golm statt. Im Laboratory for Oral Language Acquisition, kurz LOLA, wollen Sprachwissenschaftler mit innovativen Methoden wortwörtlich tiefer in die Geheimnisse des Spracherwerbs eindringen. Besonders interessiert sie, wie Kinder lernen, ihre Sprache zu beherrschen. Eine Herausforderung nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht.

„Kinder sind eine herausfordernde Zielgruppe“, sagt Dr. Aude Noiray, die LOLA leitet. „Wer mit Kindern Experimente machen will, muss sie interessieren, sie auf eine Reise mitnehmen.“ Und das tun die Forscher von LOLA tatsächlich: Kurzerhand haben sie die technischen Apparaturen zum Raumschiffcockpit umgestaltet und den Experimentalablauf in eine intergalaktische Sternenfahrt eingebettet. Die kleinen Probanden, die hier ein und aus gehen, merken kaum, dass sie im Dienst der Wissenschaft unterwegs sind. Sie dürfen sich zu Beginn einen Charakter auswählen und begleiten diesen auf seinem Abenteuer von einem Planeten zum anderen …

Sprache dort erforschen, wo sie entsteht: im Mund

Doch innovativ ist bei LOLA nicht allein das kindgerechte Setting, sondern vielmehr das technische Knowhow. Denn das Labor verbindet etablierte Audio- und Videoanalysen mit – in der linguistischen Forschung – bislang kaum eingesetzten Ultraschalltechniken. Diese sollen helfen, in einen Bereich vorzudringen, der durch Video- und Audioanalysen nur beschränkt zugänglich ist: den Mund. Vor allem das komplizierte Zusammenspiel aus Zunge und Lippen bei der Sprachproduktion ist dabei interessant  – und zu großen Teilen noch unerforscht. „Das Meiste, was wir bislang über die Artikulation wissen, verdanken wir der Auswertung von Tonaufnahmen“, erklärt Aude Noiray. Früher hätten Sprachwissenschaftler ihre eigenen Kinder aufgenommen und diese Mitschnitte dann in stundenlanger Fleißarbeit transkribiert, um Muster zu erkennen. „Heute gibt es ganz andere technische Möglichkeiten, und die wollen wir nutzen. Denn es zeigt sich mehr und mehr, dass es  nicht ausreicht, nur die akustische Seite der Sprachproduktion zu untersuchen. Diese ist vergleichbar mit der Spitze eines Eisberges. Wir müssen auch unter der Oberfläche bzw. in den Mund schauen – und die Bewegung der Artikulatoren, vor allem der Zunge, erforschen!“

Sprachliche Laute entstehen im Mund im Wesentlichen durch das Zusammenspiel von beweglichen Artikulatoren und eher unbeweglichen Teilen, den Artikulationsorten. Gerade die Zunge spielt dabei eine Hauptrolle. Zungenblatt, -spitze, -rücken und -wurzel: Mehrere Bestandteile der Zunge sind als Artikulatoren an der Bildung der meisten Konsonanten und aller Vokale beteiligt. Bislang war ihre Bewegung nur schwer zu untersuchen, da es keine Möglichkeiten gab, den Mundraum nicht-invasiv, also von außen, zu beobachten. Durch den „Blick“ des Ultraschalls ändert sich dies. „Endlich können wir die unsichtbaren Prozesse der Sprachproduktion sichtbar machen“, sagt Aude Noiray triumphierend. „Ultraschallanalysen haben ein enormes Potenzial in der linguistischen Forschung, vor allem im klinischen Bereich, aber auch für die Untersuchung von Erst- und Zweitspracherwerb.“

Die junge Sprachforscherin hatte schon als Postdoc an den Haskins Laboratories der Yale University in den USA Erfahrungen mit Ultraschalltechniken sammeln können. In den vergangenen Monaten hat sie nun intensiv daran gearbeitet, den überhaupt erst seit einigen Jahren in linguistischen Experimenten eingesetzten Ultraschall für die Erforschung der Sprachproduktion zu optimieren.

Die Messtechnik hat das Team selbst weiterentwickelt

Dies betraf auf der einen Seite das wissenschaftliche Handwerkszeug. Da bislang keine Instrumente zur experimentellen Untersuchung des Sprachapparats mithilfe von Ultraschall existieren, mussten Aude Noiray und ihr Team schlicht und einfach selbst eines entwerfen und konstruieren. „Ich mag es, Sachen zu entwickeln, zu bauen und zu testen. Wie Kunst kann Wissenschaft die Kreativität und Phantasie beflügeln“, sagt die Linguistin. „Generell finde ich den methodischen Aspekt unserer Forschungsarbeit überaus wichtig – von der Formulierung der ersten Forschungsfrage bis zum Ergebnis. Gerade im Team kommen dabei verschiedene Impulse zusammen, die das Projekt voranbringen.“ Herzstück des LOLA ist ein Ultraschallkopf, der sogenannte Transducer, der die Ultraschallwellen aussendet und empfängt. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Sonde in der Nähe der Zunge angebracht werden muss, ohne den Unterkiefer der Testpersonen einzuschränken, damit die Sprachproduktion möglichst natürlich erfolgt. Da eine Fixierung der Sonde am Kiefer für die Forscher nicht infrage kam, entwickelten sie eine Art Gestell, auf dem der Transducer befestigt ist. „Das war ein bisschen ‚tricky‘“, sagt Aude Noiray. „Der Sensor muss sich möglichst leicht bewegen und der natürlichen Kieferbewegung beim Sprechen anpassen. Gemeinsam mit einem Konstruktionsdesigner aus den USA haben wir lange daran getüftelt, Messungen angestellt, Pläne entworfen, Prototypen konstruiert und verbessert, ehe es ein überzeugendes Ergebnis gab. Wir haben es dann mit einer Feder gelöst. Diese können wir sogar auswechseln, je nachdem, ob ein Kind oder ein Erwachsener getestet wird.“ Testpersonen „legen“ ihren Kopf so auf dem Gestell ab, dass sich der Sensorkopf beim Sprechen mit dem Unterkiefer auf und ab bewegt, sich somit immer dicht unterhalb der Zunge befindet und das bestmögliche Bild von deren Bewegung aufzeichnet. Diese wird dann auf einem Computerbildschirm sichtbar, wie man es von medizinischen Untersuchungen kennt.

Während medizinische Ultraschallgeräte, etwa in Krankenhäusern, in der Regel recht groß sind, ist das LOLAExemplar vergleichsweise klein. Aus gutem Grund: „Wir wollen das Gerät irgendwann auch ‚feldtauglich‘ machen“, verrät Aude Noiray. „Denn dort gibt es unzählige Einsatzmöglichkeiten: Vergleichsstudien etwa oder die Untersuchung von gefährdeten Sprachen, die ja oft nur an den Orten erfolgen kann, wo sie noch gesprochen werden.“ 

Dank Ultraschall sehen, wie Sprache entsteht

Die zweite Anpassung, die Aude Noiray und ihr Team beschäftigte, betraf das komplexere Zusammenspiel der wissenschaftlichen Methoden. Immerhin sollten für LOLA die Vorzüge der etablierten Audio- und Videoanalyse mit den neuen Möglichkeiten der Ultraschallvisualisierung kombiniert werden. „Bei unseren Experimenten nehmen wir Ton, Bild und Ultraschall synchron auf“, erläutert die Forscherin. Mithilfe einer eigens entwickelten Software werden diese Daten dann zusammengeführt und ausgewertet. Das Programm filtert unbrauchbare Datensätze automatisch heraus. Wenn beispielsweise die Ultraschallbilder fehlerhaft sind, weil Probanden ihren Kopf weggedreht haben, lässt sich dies anhand der Videoaufnahmen verifizieren. Dafür werden den Testpersonen vor dem Experiment farbige Punkte auf das Gesicht geklebt. Sobald diese „Fixpunkte“ die vorgesehene Position verlassen, wird dies von der Videoanalysesoftware erfasst.

Für Aude Noiray ist ein gesprochenes Wort das Ergebnis eines lange trainierten Miteinanders: „Das ist wie ein Tanz“, so die Forscherin. „Tanzen ist eine Frage der Koordination, der richtigen Geschwindigkeit und der Abstimmung der Beteiligten. Das Gleiche gilt für das Sprechen.“ In ihren Experimenten – ob nun als Weltraumreise oder nicht – bringen die Wissenschaftler ihre Testpersonen dazu, bestimmte Wörter auszusprechen. Die kombinierte Analyse der Daten lässt dann Rückschlüsse darauf zu, wie die Artikulatoren zusammenwirken. „Wenn ich ein ü spreche, übernehmen die Lippen die Führung, während die Zunge in den Hintergrund tritt“, so die Linguistin. „Bei anderen Lauten ist es umgekehrt. Wirklich spannend wird es, sobald aus einzelnen Lauten Wörter und Sätze werden. Denn was aufeinander folgt, beeinflusst die Koordination der Artikulatoren. Und diese wollen wir untersuchen.“

Im Fokus steht der Spracherwerb von Kindern

Im Fokus der Untersuchungen, die im LOLA durchgeführt werden, steht die Sprachentwicklung von Kindern – und die Frage, auf welche Weisen sie zu Meistern ihrer Sprache werden oder was ihnen dabei im Weg steht. „Das Ziel beim Sprechen ist es, bestimmte Laute zu produzieren“, bringt es Aude Noiray auf den Punkt. „Das kann man grundsätzlich auf verschiedenen Wegen erreichen. Deshalb haben Kinder anfangs auch sehr verschiedene Strategien der Sprachproduktion und müssen lernen, diese auf die am weitesten verbreiteten zu reduzieren.“ Diese Entwicklung zu rekonstruieren, könnte letztlich beispielsweise Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen zugutekommen. 

In einer groß angelegten, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie untersuchen die LOLA-Wissenschaftler derzeit Kinder im Alter von drei, vier, fünf und sieben Jahren, denen eine Kontrollgruppe von Erwachsenen gegenübergestellt wird. Je Altersstufe werden 15 Kinder zur linguistischen Weltraumreise eingeladen. Bei einem zweiten Termin wird mithilfe traditioneller sprachwissenschaftlicher und entwicklungspsychologischer Tests ihr Sprachstand ermittelt. Der Vergleich der verschiedenen Altersstufen soll dann Einblicke in die Entwicklung ermöglichen. Gerade die jüngsten Probanden stellten das Team vor besondere Herausforderungen: „Wir waren unsicher, ob wir Dreijährige untersuchen können“, sagt Aude Noiray. „Es war nicht einfach, sie bei der Stange zu halten. Die Studierenden, die die Experimente durchführen, müssen die Geschichten gut erzählen. Gemeinsam haben wir dafür Ideen gesammelt und den Ablauf optimiert – und es klappt!“

Experimenteller Kern der Studie ist das Phänomen der Koartikulation: die Beeinflussung eines Lautes durch seinen lautlichen Kontext. Dies betrifft indes nicht nur den Klang der Laute – ein k-Laut mit nachfolgendem i- Laut klingt anders, als wenn darauf ein u folgt –, sondern auch ihre Entstehung im Mund, die gewissermaßen ständig parallel verläuft. Denn während der Bildung eines Lautes nehmen die beteiligten Artikulatoren den nachfolgenden teilweise vorweg, indem sie sich schon in die Stellung begeben, wo dieser gebildet wird. Im Experiment untersuchen die LOLA-Forscher dies am Zusammenspiel von Konsonanten (C1, C2) und Vokalen (V1, V2) in Wortpaaren der Form „eine C1V1C2V2“, etwa das Kunstwort „eine bide“.

Elina Rubertus geht sogar noch einen Schritt weiter – in ihrem Promotionsprojekt, das Teil der Studie ist. Sie schaut, ob die Koartikulation auch die Wortgrenze „überspringt“. Sie untersucht den letzten Laut des ersten Wortes, das letzte e im Artikel eine. Dieser Laut, das sogenannte Schwa, wird durch eine neutrale Zungenposition gebildet, gewissermaßen die Ruheposition der Zunge, die am wenigsten Anstrengungen erfordert. „Mithilfe der Ultraschallbilder möchte ich herausfinden, ob sich diese neutrale Zungenformation aufgrund des folgenden Vokals verändert“, erklärt sie. „Ob also das Schwa vor dem Wort ‚bide‘ eine andere Zungenformation aufweist als beispielsweise vor dem Wort ‚bade‘. Für die Produktion eines i nimmt die Zunge beispielsweise eine recht hohe Position ein, für die Produktion eines a eine niedrige. Wenn schon das Schwa solche Unterschiede in der Zungenform aufweist, können wir davon ausgehen, dass der Vokal schon vorbereitet wird, die Zunge also bereitsin der vorigen Silbe beginnt, sich in die entsprechende Position zu begeben, um flüssige Sprachproduktion zu ermöglichen.“ Ähnliches wollen die Forscher auch mit den Daten des Lippenöffnungsgrades machen, um so sowohl linguale – also die Zunge betreffende – als auch labiale – die Lippen betreffende – Koartikulation untersuchen zu können. „Interessant wird dann der Vergleich zwischen den verschiedenen Altersgruppen“, so Elina Rubertus. „Zeigen Kinder andere Muster als Erwachsene? Können wir in den verschiedenen Altersgruppen unserer jungen Probanden eine schrittweise Entwicklung verfolgen?“

Die Koartikulationsstudie ist Grundlagenforschung, Vergleichbares gibt es bislang nicht. Ursprünglich hatte sich Aude Noiray von Beginn an Kindern mit gestörter oder verzögerter Sprachentwicklung widmen wollen. „Aber dann dachte ich, dass wir das nicht machen können, ohne die typische Entwicklung zu kennen.“ Die Rechnung der Sprachwissenschaftlerin geht auf: Noch während die Längsschnittstudie läuft, tat sich ein neues Projekt zu Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen auf. Dafür kooperiert LOLA mit der Forschergruppe des Doktorandennetzwerkes „PredictAble“, das von der Psycholinguistin Prof. Dr. Barbara Höhle und der Kognitionswissenschaftlerin Prof. Dr. Isabell Wartenburger vom Department für Linguistik geleitet wird. Gemeinsam wollen sie untersuchen, ob sich schon in der frühen Sprachentwicklung von Kindern Anzeichen für Störungen erkennen lassen.

Für Aude Noiray ist das erst der Anfang. Sie hat bereits Ideen für weitere Projekte im Kopf. „Und ein Team kluger, gründlich arbeitender und enthusiastischer Studierender an meiner Seite“, ergänzt sie lachend. LOLA nimmt Fahrt auf, die Reise kann beginnen.

Das Projekt

Methodology for investigating the development of coarticulation in German children (DFG Grant No: 1098)
Beteiligte: Dr. Aude Noiray (Leitung), Dzhuma Abakarova, Elina Rubertus (beide Universität Potsdam); Dr. Mark Tiede (Haskins Laboratories)
Laufzeit: 2015–2018
Finanzierung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
http://www.uni-potsdam.de/lola/index.html

Die Wissenschaftlerinnen

Dr. Aude Noiray studierte English, Language, Letter and Foreign Civilisation sowie Language Sciences an der Université Stendhal, Grenoble (Frankreich). Nach ihrer Promotion am GIPSA-lab, einem linguistischen Labor in Grenoble, arbeitete sie am Laboratoire de Phonétique in Montréal (Kanada) und als Postdoc an den Haskins Laboratories der Yale University (USA). Seit 2012 lehrt und forscht sie an der Universität Potsdam – inzwischen als Leiterin eines DFG-Projekts.

Universität Potsdam 
Department für Linguistik
Karl-Liebknecht-Straße 24–25
14476 Potsdam
E-Mail: anoirayuni-potsdamde

Elina Rubertus studierte allgemeine theoretische Linguistik im Bachelor und experimentelle und klinische Linguistik (IECL) im Master an der Universität Potsdam. Seit 2015 ist sie Doktorandin am LOLA.
E-Mail: rubertusuni-potsdamde

Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Agnetha Lang
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde