Über Jahrtausende hinweg bildeten religiöse Vorschriften die Grundregeln des gesellschaftlichen Miteinanders – waren Glaubenssätze und Gesetze zugleich. Erst seit einigen Hundert Jahren sind in einigen Staaten Kirche und Staat auseinandergetreten und säkulare Gesetzbücher übernehmen die Rolle des rechtlichen Rahmens. Doch ist die Trennung von Kirche und Staat ein gesellschaftlicher Fortschritt? Treten beide zwangsläufig in Konflikt zueinander oder können sie sich ergänzen und einander helfen? Über das Verhältnis von Recht und Religion – früher und heute – sprach Portal Wissen mit dem Potsdamer Juristen Prof. Dr. Götz Schulze.
An welchen Ihnen bekannten Stellen berühren sich Recht und Religion?
Zunächst einmal war aus historischer Sicht die Religion zuerst da. Der Staat ist im Zeitalter der Religionskriege und der Glaubensspaltung aus der religiösen Herrschaft entlassen worden. Er hat sich mit einer religiösen Prägung aber ohne religiöse Führung weiterentwickelt.
Die Religion erhob ursprünglich den Anspruch, die Gesellschaft zu organisieren und zu leiten, sie war immer schon ein Mittel der Machtausübung. Was wir heute feststellen, ist, dass es Staaten gibt, die die Herrschaft des Glaubens bis heute weiter geführt haben. Dort formuliert sich der staatliche Machtanspruch noch religiös.
Sind es gerade diese Unterschiede, die das Thema für Sie als Wissenschaftler spannend machen?
Welche Stellung hat heute die Religion in unseren westlichen Gesellschaften? Diese Frage muss man sich zunächst einmal stellen. Dafür haben wir unterschiedliche Modelle. In Frankreich wird die Religion aus dem Staatswesen komplett herausgehalten. In diesem streng laizistischen Modell gibt es eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Die deutsche Variante des Laizismus ist moderater. Es gibt Übergänge zwischen beiden. Der Staat zieht die Kirchensteuer ein, finanziert kirchliche Einrichtungen und es gibt eine starke Wechselbeziehung zwischen staatlichen und kirchlichen Institutionen. Der Staat gesteht der Kirche ferner besondere Freiräume zu, in die er sich nicht einmischt. Es gibt Staaten, die eher dem französischen Modell folgen, und andere, die eher dem deutschen zuneigen. Anders ist es in den islamisch geprägten Staaten, die die Loslösung des Staates von der Kirche so nicht mitgetragen haben und wo beide noch ununterscheidbar ineinander verwoben sind. Das muss nicht besser oder schlechter sein – man muss es aber wissen und beachten.
Wie kann man diese verschiedenen Modelle konzeptionell beschreiben? Während das Rechtssystem für bestimmte Grundsätze Begründungen liefert, werden religiöse Texte ausgelegt und erklärt, aber nicht hinterfragt …
Das ist eine zutreffende Beobachtung. Das staatliche Recht ist ein rationales und damit ein begründungspflichtiges Recht, das auch durch die entsprechenden Gesetzgebungen debattiert und diskutiert wird – zumindest in den Demokratien. Das trifft in dieser Form auf die religiöse Rechtsauslegung nicht zu. Es gibt die Religionsführer und die Religionsgelehrten, die eine Interpretationshoheit haben und die bestimmte Auslegungen der religiösen Texte vertreten. Das ist natürlich ein fundamentaler Gegensatz, mit dem wir auch unsere Schwierigkeiten haben.
Allerdings ist diese enge Verflechtung zwischen Religion und Staat für die dort lebenden Menschen weniger problematisch, als es uns erscheint. Doch im Einzelfall gibt es große Härten. Ob wir fortschrittlicher sind, weil wir die Sphären Religion und Staat strikt trennen, ist eine Frage der Perspektive. Für den Einzelnen erzeugt die Trennung zunächst einmal mehr Freiraum. Die Religion wird zur Privatsache und die Rechtstreue ist keine notwendig moralische und damit keine religiöse Kategorie mehr. Der Staat fragt nicht danach, aus welchen Motiven oder aus welcher Überzeugung eine Person handelt oder die Gesetze befolgt. Die darin liegende Rationalisierung des Rechts und dadurch auch der Macht betrachten wir aus unserer Sicht also durchaus als Fortschritt. Gleichzeitig bleibt das Bedürfnis nach Werten und weltanschaulicher Orientierung, die der säkulare Staat jedenfalls nicht religiös vorgeben oder gar erzwingen kann. Dieses Dilemma kann und muss nicht für alle Kulturkreise in gleicher Weise aufgelöst werden.
Wie skizzieren Sie stärkere und weniger starke Verflechtungen von Religion und Staat in den verschiedenen Kulturkreisen und wo gibt es Konflikte?
Es gibt drei Schwerpunkte. Der erste ist die Gewährung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Freiheit des religiösen Bekenntnisses. In Deutschland lebende Muslime etwa haben das Recht darauf, eine Gemeinde zu bilden und eine Moschee zu haben. Darin steckt durchaus auch Konfliktpotenzial, wenn wir etwa an das Burkaverbot, die Stellung der Frau oder die Beschneidungsfrage denken. Der zweite Schwerpunkt liegt im Familienrecht. Wenn es etwa zu Scheidungen kommt, gibt es gerade bei Menschen in gemischt religiösen bzw. gemischt kulturellen Beziehungen zahlreiche Konfliktpunkte zwischen geltendem Recht und religiöser Auffassung. Der dritte Punkt schließlich betrifft das Erbrecht. Je nach Kulturkreis ist dieses recht unterschiedlich. Es gibt im muslimischen Recht beispielsweise keine Testamente. Männer werden besser gestellt als Frauen, was ein klarer Verstoß gegen unser Gleichheitsgebot ist. Andererseits darf auch nach deutschem Recht im Testament der Sohn gegenüber der Tochter bevorzugt behandelt werden, deshalb muss man mit Korrekturen hier vorsichtig sein.
An einem prominenten Beispiel zeigt sich das Konfliktpotential: Vor einigen Jahren hatte ein in Deutschland lebender iranischer Profi-Fußballspieler zwei Ehefrauen – eine dauerhafte und eine zweite, sogenannte Zeitehefrau. Die Zeitehe war auf fünf Jahre abgeschlossen. Nach dem Ablauf der fünf Jahre musste er ihr laut ihrem Ehevertrag ein Haus in der Gemeinde, in der er lebte, bauen. Das war Hamburg. Als die Frau ihr Recht einforderte, entstand die Frage, ob dies auch hier in Deutschland gilt. Erkennen wir den Umstand an, dass hier jemand in polygamer Ehe lebt? Akzeptieren wir Paare, die in einer Zeitehe leben? Das Ergebnis: Wir akzeptieren dies, sofern die Eheschließungen in einem Kulturkreis erfolgten, der diese Formen zulässt, die Beteiligten in diesem Kulturkreis bereits gemeinsam lebten und Rechte Dritter nicht verletzt werden.
Hat diese Toleranz Grenzen?
Wir haben eine Grenze, die nicht überschritten werden darf und die nicht verhandelbar ist. Den Kritiker auspeitschen oder die Ehefrau züchtigen – das sind Dinge, die nach unserem Verständnis gänzlich indiskutabel sind. Wir wollen aber gleichzeitig die kulturellen Identitäten der Personen respektieren und daher auch im Recht die tatsächlichen Unterschiede berücksichtigen, sofern sie mit dem Kernbereich unserer Rechtsvorstellung noch vereinbar sind.
Ein anderes aktuelles Beispiel ist die Frage, was die Karikatur darf. Dürfen die Freiheit der Kunst und der Meinung religiöse Gefühle verletzen? Muss es hier rote Linien geben und wer zieht diese? Was wir bereit sind zu akzeptieren, müssen wir immer wieder neu in unserer Gesellschaft aushandeln. Das religiöse Gefühl ist dafür allerdings kein ausreichend greifbares Kriterium und es muss sich einer klaren rechtsstaatlichen Grenzziehung unterordnen. Bei uns gilt der Primat des aufgeklärt staatlichen Rechts. Freiheiten muss man auch aushalten können.
Gibt es Fälle, in denen sich Recht und Religion sinnvoll ergänzen?
An sich sollten sich Recht und Religion immer sinnvoll ergänzen, wobei das Recht nach unserem Verständnis den Spielraum der Religion festlegen darf und muss. Bis vor 30, 40 Jahren hatte die Kirche bestimmte Lebensbereiche unter ihren regulatorischen Fittichen. Das gibt es in dieser Form aber heute nicht mehr bzw. ist dort, wo es noch vorkommt, wie etwa im kirchlichen Arbeitsrecht, auch problematisch. Religiöse Handlungen übt man im Privatleben aus. Die Freiheit, an nichts glauben zu müssen – das ist bei uns selbstverständlich. Die Religion bildet eine Moralvorstellung aus und gestaltet eine Lebenswelt danach. Die religiöse Moral ist aus der Sicht des Rechts aber immer nur eine von mehreren möglichen. In Staaten, die religiös viel stärker geprägt sind, ist das anders. Dort werden Andersgläubige schnell benachteiligt und geächtet.
Warum ist dieses Thema für Sie als Jurist und Wissenschaftler relevant?
Das Recht ist nicht absolut, es ist immer an Raum und Zeit gebunden. Was heute hier Recht ist, muss morgen und anderswo nicht Recht sein. Die Rechtsvergleichung zeigt, dass ähnliche Probleme in Gesellschaften ganz unterschiedlich gelöst werden. Das ist für mich als Jurist bereichernd und spannend. Unser Bürgerliches Gesetzbuch ist jetzt 115 Jahre alt – die Kommissionen, die es geschaffen haben, hatten 20 Jahre lang getagt, es mit damals bestehendem Recht verglichen und versucht, aus anderen Rechtsordnungen zu lernen. Das Recht selbst wird durch religiöse und kulturelle Einflüsse gewandelt. Es soll einen gesellschaftlichen Konsens abbilden. Dieser unterliegt aber einem ständigen Wandel – etwa durch Globalisierung oder Migration. Und das muss idealerweise in die Gesetze einfließen. Die Religion ist an dieser Stelle natürlich wichtig, weil sie diesen gesellschaftlichen Grundkonsens beeinflusst.
Wie kann die Rechtswissenschaft zur Erforschung der Beziehung von Recht und Religion beitragen? Wie zu ihrer Weiterentwicklung, wie zu ihrer Verständigung?
Rechtswissenschaft analysiert zunächst das, was vorkommt. Also die historischen und gegenwärtigen Fallkonstellationen im Zusammenhang von Recht und Religion, ordnet sie nach Kriterien und vergleicht sie. Schließlich schaut sie, welche Probleme auftreten und ob diese sachgerecht gelöst werden. In einem wissenschaftlichen Diskurs wird das dann diskutiert und fließt in konkrete Gesetze ein – jüngst etwa in die sogenannte Erbrechtsverordnung „Rom V“ auf europäischer Ebene. Der Jurist als solcher muss allerdings für sich in Anspruch nehmen, nicht moralisch zu agieren. Er hat per se keine moralische Autorität.
Recht und Religion – an der Universität Potsdam
Die Juristische Fakultät der Universität Potsdam veranstaltete gemeinsam mit der Université Paris Ouest Nanterre in den vergangenen Jahren mit Mitteln der deutsch-französischen Hochschule Sommeruniversitäten in Tunesien und Marokko. 2014 ging es in Casablanca unter der Leitung von Prof. Schulze um das Thema Recht und Religion. Ferner fanden zwei Tagungen in Potsdam zum Thema Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht statt.
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Götz Schulze studierte Rechtswissenschaften in Würzburg und Heidelberg. Seit 2010 ist er Professor für Bürgerliches Recht, Europäisches Privatrecht, Internationales Privat- und Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Potsdam.
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Text: Matthias Zimmermann/Heike Kampe
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