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„Die technische Entwicklung sollte den Menschen dienen, nicht umgekehrt“ – Prof. Dr. Key Pousttchi über deutsche Ingenieurskunst in der Zeit der Digitalisierung

Internetriesen, die unsere Daten sammeln und mit ihnen handeln. Smartphones, die uns besser kennen als unsere Freunde oder Partner. Städte, die sich dank Big Data Analytics selbst steuern. Digitalisierung ist überall. Aber ist sie auch alles? Key Pousttchi ist Professor für Wirtschaftsinformatik und Digitalisierung. Er untersucht, wie sich die Digitalisierung auf die Wirtschaft auswirkt, wie Firmen darauf reagieren sollten und wie ihre IT-Systeme dazu aussehen müssen. Wir haben bis jetzt erst zehn Prozent der Veränderung gesehen, so sein Fazit. Umso wichtiger sei es, Strategien zu entwickeln, um diesen Wandel aktiv zu gestalten, anstatt von ihm beherrscht zu werden.

Die Digitalisierung kommt nicht, sie ist längst Realität. Auch in der Wirtschaft, wo die technischen Entwicklungen seit Jahren fortwährende Umwälzungen mit sich bringen. Dass dank der Digitalisierung Kundendaten in großer Menge verfügbar sind und ausgewertet werden können, eröffnet gerade der Werbung bislang ungeahnte Möglichkeiten. Schon jetzt könne das Kreditkartenunternehmen Mastercard dank der Analyse des Bezahlverhaltens seiner Kunden relativ treffsichere Prognosen abgeben, konstatiert Key Pousttchi. Ein wertvolles Gut, denn wer weiß, wie seine Kunden ticken, kann gezielter und erfolgreicher werben. „Mastercard kann in den USA anhand von Mustern besser vorhersagen, wer sich in fünf Jahren scheiden lässt, als es die Leute selbst können“, so der Forscher. „Das überrascht mich nicht. Was mich überrascht, ist, mit wie wenig Daten sie es können.“ 

Und das Ende dieser Entwicklung ist bei Weitem noch nicht erreicht. Der ungebremste Siegeszug der Smartphones, Tablets sowie neuerdings Smartwatches und anderer sogenannter „Wearables“ erreicht den Rang einer neuen digitalen Revolution – und katapultiert das Mobile Business, also wirtschaftliche Prozesse mit und um mobile Endgeräte, von der operativen auf die strategische Ebene. „Das Smartphone ist der Schlüssel“, sagt Key Pousttchi. „Es stellt bei den Endkunden die Verbindung zwischen realer und virtueller Welt her.“ Mobile Computer sind in nahezu alle Lebensbereiche eingebunden und sammeln unzählige Informationen, die quasi in Echtzeit ausgewertet werden können. „Die gigantischen Datenmengen von Endkunden bedeuten eine gewaltige Marktmacht“, erklärt der Wirtschaftsinformatiker. Derzeit werde das Geschäft mit Informationen von vier großen Firmen dominiert und vorangetrieben – Google, Apple sowie Facebook und, mit Abstand, Amazon. „In vielen Branchen wird es fundamentale Umwälzungen geben, weil ganze Geschäftsmodelle in neuen Wertschöpfungsnetzen verschwinden. So ist es durchaus möglich, dass eine Firma plötzlich eine Dienstleistung, mit der andere lange ihr Geld verdient haben, etwa ein Bezahlerfahren, kostenlos anbietet, weil sie ein anderes Ziel hat – die werberelevanten Daten der Kunden.“ Denn damit lässt sich mehr tun, als nur ihre Kaufentscheidung vorhersagen. Wenn die Werbung perfekt auf den Kunden zugeschnitten ist, lässt sich dieses Verhalten auch beeinflussen. „Wer genug Daten über seine Kunden hat, weiß, womit er sie überzeugt“, sagt Pousttchi. Der eine wolle nur billig, der andere Markenqualität, der dritte guten Service, der vierte ist ein Impulskäufer. Es lasse sich sogar berücksichtigen, wann jemand üblicherweise eine Kaufentscheidung trifft. Wenn der Händler besser als der Kunde weiß, was dieser braucht – und auch wann –, hat er stets die besseren Argumente auf seiner Seite. Und Netzgiganten wie Google & Co. arbeiten zielstrebig darauf hin, sich zwischen Händler und Kunden zu schieben, um sich die passgenaue Vermittlung vom Händler teuer bezahlen zu lassen, der dabei seinen Gewinn verlieren könnte.

Endkunden, Unternehmen, aber auch ganze Volkswirtschaften: Von den Verschiebungen sind alle betroffen. Jeder, der Produkte für Endkunden herstellt oder anbietet, müsse gegenwärtig genau schauen, wie die Digitalisierung sein Geschäftsmodell beeinflusse, erklärt Pousttchi. „Eine Reihe Branchen hat es schon überrollt und Zahlen zeigen, dass die Hälfte der großen Unternehmen es nicht überleben wird, wenn sie die Digitalisierung verschlafen.“ Gegenwärtig herrschten auf dem Markt zwei Strategien vor, so der Wirtschaftsinformatiker. Während die einen eher orientierungslos agierten oder abwarteten, würden andere ihre Möglichkeiten maßlos überschätzen und versuchen, mit eigenen Komplettlösungen – etwa einem hauseigenen Bezahlsystem – gegen die globalen Intermediäre anzutreten. „Beides ist nicht zukunftsweisend“, so Pousttchi. „Sie müssen die neuen Regeln erkennen, die eigenen Leistungsmodelle analysieren und dann zielgerichtet aus den eigenen Stärken die Geschäftsmodelle von morgen entwickeln". Notfalls durch schöpferische Zerstörung. 

An dieser Stelle setzt eines der zentralen Forschungsfelder Pousttchis an, denn die wissenschaftliche Analyse steckt in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen. „Alle reden über Digitalisierung, aber keiner untersucht sie wirklich systematisch. Hier ist die Rolle der Wissenschaft: Diese Entwicklungen systematisch aufzuarbeiten und den Einzelnen, den Unternehmen und der Gesellschaft als Ganzem zu helfen, den digitalen Wandel zu gestalten.“

Aktuell untersucht Markus Humpert in der ersten Masterarbeit, die Pousttchi an der Uni Potsdam betreut, wie sich die Datenmacht von Internetunternehmen in der realen Welt auswirkt. Dafür nimmt er eine Reihe von Branchen genauer unter die Lupe, etwa Einzelhandel, Banken und Versicherungen. Welche Firmen oder gar Wirtschaftsbereiche sind besonders betroffen? Was sind die Ursachen? Und was können sie tun, um mit der Marktmacht der neuen Wettbewerber mitzuhalten? Wie können sie selbst Vorteile aus der Entwicklung gewinnen?

„Unser Ziel ist es, ein Analyseinstrument zu entwickeln, um die Marktmachtverschiebung durch die Anwendung von Big-Data-Techniken auf Endkundendaten zu analysieren“, so Humpert, der damit in die Forschungsarbeit des Lehrstuhls eingebunden ist. Ein solches Analyseinstrument ist nur der erste Schritt. Key Pousttchi ist sich sicher: „Alle wesentlichen Innovationen der nächsten 20 Jahre werden datenbasiert sein, das hält niemand auf. Die Devise kann nur sein: mitzugestalten und dafür zu sorgen, dass die Dinge zu unserem Wohl geschehen. Das betrifft die wirtschaftliche und technische Seite gleichermaßen: Ich bin nicht bereit, mich nach einer Maschine zu richten. Die technische Entwicklung sollte dem Menschen dienen, nicht umgekehrt.“

Für Deutschland sieht er mit Blick auf die Digitalisierung nicht schwarz, aber noch sehr viel zu tun. Deutschland als Ingenieurnation, so sein Credo, sei eigentlich wie gemacht für die Herausforderungen der Digitalisierung. „Wir müssen uns wieder auf unsere Stärken besinnen und die Studierenden müssen wieder mehr lernen, dicke Bretter zu bohren, statt von Modul zu Modul zu hetzen“, sagt Pousttchi. In seinem Büro hängt ein großes Bild eines Zeppelins am Himmel über Los Angeles aus den 1920er Jahren. „Es gab Zeiten, da hat man an der US-Westküste nach oben geschaut und gesagt: ‚Wow, die Deutschen.‘ Und da müssen wir wieder hin. Mein Job ist es, wieder Zeppeline zu bauen – in der digitalen Welt.“

Pousttchi selbst ist übrigens keineswegs „durch und durch“ digital. Und zwar ganz bewusst. Sein Smartphone ist keine 6. Generation. Ein Tablet besitzt er nicht mehr. „Ich habe vieles getestet und an einigen Stellen gezielt wieder reduziert. Wir sollten uns auch persönlich gut überlegen, was wir digitalisieren und was nicht. Wenn sich das Hamsterrad immer schneller dreht, ist man nicht unbedingt produktiver“, sagt er. „Ich habe einen guten Laptop und mir sehr viel Zeit genommen, ihn einzurichten.“ Zwar bringe es seine Arbeit mit sich, die technischen Entwicklungen zu kennen. Hierfür seien gerade Kontakte in die Praxis wichtig, die er pflegt. Aber: „Als Wissenschaftler muss mein Blick in die Tiefe zielen. Dafür sind ein Bleistift und ein Blatt Papier manchmal wichtiger als die Technik, die ich untersuche“, so der Forscher. „Und ein Buch“, fügt er hinzu. „Meine Studierenden werden auch in zehn Jahren noch Bücher lesen!“

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Key Pousttchi studierte Wirtschafts- und Organisationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik an der Universität der Bundeswehr München. Er leitete von 2001 bis 2014 die Forschungsgruppe wi-mobile an der Universität Augsburg. Seit 2015 ist er Inhaber des SAP-Stiftungslehrstuhls für Wirtschaftsinformatik und Digitalisierung, insbesondere IT Strategy und IT Business Value, an der Universität Potsdam. 

Kontakt

Universität Potsdam
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät 
August-Bebel-Straße 89, 14482 Potsdam
E-Mail: pousttchi@uni-potsdam.de 

Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Daniela Großmann
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde