Kein Stillsitzen, kein Stundenklingeln. Nichts beweisen müssen, nicht versagen können. Es gibt kein richtig und kein falsch, und es ist dennoch Schule. Uschi Jung ist mit „ihren“ Schülern auf Zeit hinausgezogen in den Tempelgarten von Neuruppin. Die Malerin und Grafikerin will mit ihnen den Freiraum einer ganzen Projektwoche füllen. Und ist dabei selbst Teil eines Projekts. Treffsicher trägt es den Namen d.art und zielt darauf ab, Kunstschaffende für die außerunterrichtliche Arbeit in Ganztagsschulen weiterzubilden. Erziehungswissenschaftler der Universität Potsdam erstellen hierfür ein Konzept.
Kultur macht stark – diese Erkenntnis ist nicht neu. Kinder brauchen Geschichten, die sie mit ihrer eigenen Gedankenwelt zum Leben erwecken können, sie brauchen Malerei, die ihre Phantasie beflügelt, und Musik, die sie tief in ihrem Innern zu berühren vermag. Das alles ist bekannt. Und doch kommt das Musische im streng getakteten Schulalltag oft zu kurz, werden die engen Bünde zwischen Technik und Ästhetik, Denken und Empfinden, Wissenschaft und Kunst nicht gesehen, nicht genutzt.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert nun im Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ verschiedenste Projekte des kulturellen Lernens, so auch d.art, eine wissenschaftlich fundierte Weiterbildung für künstlerisch Kreative, die in Ganztagsschulen außerhalb des Unterrichts mit Kindern und Jugendlichen arbeiten möchten. Das „d“ steht für Didaktik, was aber nicht bedeutet, dass hier aus Künstlern Lehrer gemacht werden. „Vielmehr wollen wir sie für die pädagogischen Spannungsverhältnisse in der Arbeit mit Kindern sensibilisieren“, erklärt Projektleiter Joachim Ludwig. Der Professor für Erwachsenenbildung will Künstler dazu befähigen, in der schöpferischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen die identitätsstiftenden Momente zu erkennen und zu unterstützen. „Künstler können Heranwachsenden helfen, sich mit den Mitteln der Kunst auszudrücken und zu befragen: Wer bin ich und in welcher Welt lebe ich?“
Uschi Jung hat dies bereits erfahren. Die Malerin aus Neuruppin gehört zu einer ersten Gruppe von Künstlern, die das Weiterbildungsprogramm der Potsdamer Erziehungswissenschaftler erproben und in der Praxis testen konnte. Eine Woche lang malte und zeichnete sie mit 13- bis 15-Jährigen, frei von äußeren Zwängen, Leistungsdruck und Lehrplan. Sie ging mit ihnen hinaus in die Natur, in den Tempelgarten der Stadt, von dessen Atmosphäre sich die Jugendlichen inspirieren lassen konnten, um schließlich etwas Eigenes hinzuzufügen. So entstanden vielgestaltige, mit Acrylfarbe bemalte Plexiglasscheiben, die wie kleine Skulpturen in den Garten „hineingepflanzt“ wurden.
Hemmschwellen abbauen und Perspektiven wechseln
Vorbereitende und begleitende Seminare halfen Uschi Jung dabei, im Austausch mit ihren Künstlerkollegen und dem Wissenschaftlerteam das eigene Tun zu reflektieren: Was erwarten die Kinder eigentlich von mir? Wie kann ich verhindern, dass ich in die Lehrerrolle hineinschlüpfe? Und wie vermittle ich den Schülern, dass sie sich ohne fremde Zielvorgaben auf eine Suche begeben dürfen? Spannend erlebte sie auch das Verhältnis zu den Lehrern, die, so beobachtete es Uschi Jung, ständig unter Druck zu sein schienen. „Da ist es nicht so leicht, Hemmschwellen abzubauen.“ Andererseits hat eine Lehrerin während der Projektwoche geäußert, dass sie ihre Schüler noch nie „von dieser Seite“ gesehen habe. Erst der Wechsel der Perspektive hatte ihr dies ermöglicht.
Besonders angenehm empfand Uschi Jung die Möglichkeit, jederzeit mit den Potsdamer Bildungsforschern in Kontakt treten zu können und konkrete Fragen zu diskutieren. Daraus entstand eine anhaltende Verbindung, die für die wissenschaftliche Weiterentwicklung des Konzepts unverzichtbar ist. „Uns interessiert vor allem der Lernprozess der Künstler“, betont Joachim Ludwig. „Wie lösen sie das Spannungsverhältnis zwischen ihrem eigenen, sehr hohen künstlerischen Anspruch und den realen Ausdrucksmöglichkeiten der Kinder?“ Der Erziehungswissenschaftler nennt das Beispiel eines Videokünstlers, dem es schwerfiel, auf die gewohnte technische Perfektion bei der Umsetzung seiner künstlerischen Ideen zu verzichten und sich im Projekt auf das spielerische Herangehen und die unfertigen Ergebnisse einzulassen. „Er musste verstehen lernen, dass für die Kinder manchmal der Weg das Ziel ist, dass es vielmehr auf den künstlerischen Prozess und die ästhetischen Erfahrungen als auf das Ergebnis ankommt“, erzählt Ludwig und stellt noch einmal klar: „So wenig wie aus den Künstlern Lehrer werden sollen, sollen aus den Schülern Künstler werden.“ Für ihn ist es wichtig, dass die Heranwachsenden beim Schreiben, Malen, Musizieren ihre Lebenswelt thematisieren und auf ganz eigene Weise ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken. „Ästhetische Erfahrung ist leibgebunden an die Sinne, sie ist irritierend, ganz anders als die übliche Schulerfahrung“, so Ludwig.
Rollenerwartungen durchbrechen
Die ersten Schulprojekte zeigen, dass die Schüler den Künstlern zunächst mit der typischen Rollenerwartung an Lehrende begegnen, bis sie merken, dass hier etwas ganz anders geschieht, dass sie weder unterrichtet noch bewertet werden. Und doch handelt es sich dabei – erziehungswissenschaftlich gesehen – um Lernprozesse, um kulturelle Bildung. „Sie entsteht, wenn ich mich zur Kunst ins Verhältnis setze, wenn ich danach frage, was ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück mit mir zu tun haben“, erklärt Ludwig. „Oder wenn ich zum Beispiel darüber nachdenke, wie ich schreibe und warum ich schreibe, was ich schreibe.“
In den begleitenden Seminaren werden die Künstler angeregt, sich solche Erkenntnisprozesse bewusst zu machen, herkömmliche Vorstellungen von Pädagogik zu hinterfragen und tief sitzende Deutungsmuster aufzulösen. „Sie spüren, dass es uns um ihr eigenes Lernen geht“, sagt Ludwigs Mitarbeiter und Doktorand Markus Tasch. „Umgekehrt können wir von ihnen lernen. Sie kritisieren uns und helfen auf diese Weise, das Programm zu verbessern“, so Tasch, der die Weiterbildung konzipiert.
Zwischen Offenheit und Struktur
Auch Henry Utech gehört zum wissenschaftlichen Team. Der Bachelorstudent untersucht, wie die Künstler ihr Handeln reflektieren und einen eigenen didaktischen Stil entwickeln. Dabei nimmt er pädagogische Spannungsverhältnisse in den Blick, etwa jenes zwischen der Planung bzw. Prozesssteuerung einerseits und der Ungewissheit einer jeden konkreten Situation andererseits: „Woher kann ich wissen, wie die Schüler auf meine Fragen reagieren, was sie selber mitbringen, was sie letztlich interessiert? Wonach entscheide ich, ob ich meinen eingeschlagenen Weg verlassen muss oder beibehalten kann?“ Für Henry Utech berührt dies die entscheidende Frage nach Offenheit und Struktur eines Lernprozesses, nach dem richtigen Maß an Selbst- und Fremdbestimmung.
Inzwischen hat eine erste Gruppe von 15 Künstlern aus Berlin und Brandenburg das d.art-Programm erfolgreich durchlaufen und sich auch untereinander vernetzt, um auch künftig Erfahrungen austauschen zu können. „Das Interesse an weiteren Kunstprojekten ist groß, häufig fehlen jedoch die finanziellen Mittel“, weiß Lehrerin Silvia Marx, die im Beratungs- und Unterstützungssystem des Schulamts Brandenburg mitarbeitet und für d.art den Kontakt zu den Schulen herstellt. Schade sei auch, dass etwa Musik, Tanz oder Malerei noch kaum für die Inklusionspädagogik genutzt werden. Der Malerin Uschi Jung war es in Neuruppin gelungen, Schülern mit Lese-Rechtschreibschwäche neue Erkenntniswege zu erschließen. „Über das Zeichnen haben die Kinder gelernt, sich wieder zu öffnen und auf ihre Weise auszudrücken“, berichtet sie und bedauert, dass dieses Projekt auf ein Schulhalbjahr begrenzt war. Gern würde sie es fortsetzen. „So etwas braucht Kontinuität. “
Wenn d.art sein Ziel nicht verfehlt und das Programm einmal bundesweit greift, wird es zumindest an Künstlern nicht mangeln, die dafür die nötige Sensibilität mitbringen.
Das Projekt
d.art – Didaktik für Kunst- und Kulturschaffende zur Gestaltung außerunterrichtlicher Angebote in Ganztagsschulen, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Die Gesamtleitung liegt bei der Professur für Erwachsenenbildung/Weiterbildung und Medienpädagogik. Die Weiterbildung wird organisiert vom Institut zur Weiterqualifizierung im Bildungsbereich (WIB e.V.) und durchgeführt von erfahrenen Pädagoginnen und Pädagogen.
Projektlaufzeit: August 2014–Juli 2017
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Joachim Ludwig hat seit 2004 die Professur für Erwachsenenbildung/Weiterbildung und Medienpädagogik am Department Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam inne. Parallel zur Promotion an der Universität Regensburg und der Habilitation an der Universität der Bundeswehr München war er 15 Jahre in der Weiterbildungspraxis und der betrieblichen Beratungspraxis tätig.
Kontakt
Universität Potsdam
Professur für Erwachsenenbildung/Weiterbildung und Medienpädagogik
E-Mail: ludwiguuni-potsdampde
Karl-Liebknecht-Str. 24–25
14476 Potsdam
Markus Tasch
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Drittmittelprojekt d.art (BMBF)
E-Mail: markus.taschuuni-potsdampde
Henry Utech
Studentischer Mitarbeiter
E-Mail: utechuuni-potsdampde
Text: Antje Horn-Conrad
Online gestellt: Agnetha Lang
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde