Vier schmale, dunkle Striche sind aus der Entfernung auf der Landebahn des Flughafens Tempelhof zu sehen. Langsam kommen sie näher, vier Personen werden erkennbar, die wie in Zeitlupe im Gleichschritt vorwärts gehen. Dann legen sie sich auf den Boden, rollen auf den Rücken und stehen allmählich wieder auf, um sich mit ausgestreckten Armen spielerisch in den Wind zu legen. Passanten bleiben stehen, lächeln, schauen irritiert. Wer sind diese vier?
Saskia Oidtmann untersucht Bewegungen. Und am meisten interessiert sie sich für jene Bewegungen, die wir nicht planen, die unbewusst ablaufen, die unvorhersehbar sind – die sich unserer Kontrolle entziehen. „Die Choreografie des Ereignisses“, so lautet der Titel ihres Promotionsprojektes, in dem sie sich sowohl praktischen Studien als auch theoretischen Auseinandersetzungen mit den Begriffen des Ereignisses und der Choreografie widmet. Es pendelt zwischen Tanz-, Bewegungs- und Kulturwissenschaften. „Ich möchte herausfinden, ob eine Choreografie trotz ihrer kontinuierlichen Struktur Diskontinuität hervorbringen kann.“ Oidtmann erforscht, ob ein Ereignis, das doch einmalig und flüchtig ist, auch in der auf Wiederholung ausgerichteten Choreografie Platz finden kann.
Geschichte der Orte fließt in die Choreografien ein
Zur praktischen Untersuchung gehört auch die Aufführung von drei selbst choreografierten Tänze im Stadtraum. An geschichtsträchtigen Berliner Orten, dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, dem Rathaus Schöneberg und dem Tempelhofer Hafen, führte sie zusammen mit drei Tänzerinnen drei Choreografien auf. „Der choreografischen Arbeit ging eine lange Beobachtungsphase voraus“, berichtet Oidtmann. Wochenlang hat die 35-Jährige allein vor dem Rathaus Schöneberg Hunderte Menschen beobachtet: Sie sah Hochzeiten, Behördengänger, Marktbesucher, Menschen, die auf den Treppen am Eingang rasteten. „Wie gehen, stehen, sitzen die Menschen?“, fragte sich die ausgebildete Tänzerin.
Diese Studien flossen in die Choreografien ein. Und auch die Geschichte dieser Orte, die Oidtmann zuvor recherchiert hatte: Vor dem Rathaus, das jahrzehntelang nicht nur Schöneberger, sondern das Rathaus für ganz Westberlin gewesen war, hielten bedeutende Personen bedeutende Reden. Von John F. Kennedy, der hier jenen Satz – „Ich bin ein Berliner“ – sprach, der um die Welt ging, über Indira Gandhi bis zu Queen Elizabeth. Vor dem Gebäude protestierten am 2. Juni 1967 Studenten gegen den Besuch des iranischen Schahs, unter ihnen Benno Ohnesorg, der nur wenige Stunden später vor der Deutschen Oper erschossen wurde. „Der Platz vor dem Rathaus war jahrzehntelang sehr wichtig. Heute dagegen ist er vor allem Parkplatz“, sagt Oidtmann. Das Quartett führte den Tanz auf, als um 12 Uhr die Freiheitsglocken des Rathauses läuteten – ein Geschenk der amerikanischen Alliierten. Um das Interesse für die Bezirksgeschichte zu unterstützen, förderte das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg Oidtmanns Tanzprojekt.
Oidtmann studierte Film- und Theaterwissenschaft in Bochum und Berlin, anschließend Bühnentanz und Choreografie am Laban Center London. Seither ist sie als Tänzerin und Choreografin tätig. Freiberuflich macht sie Bewegungstraining für Schauspieler und berät Regisseure, wenn diese Tanzszenen in ihrem Film planen. Seit April 2014 promoviert sie im Graduiertenkolleg „Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens“ an der Universität Potsdam bei den Medienwissenschaftlern Prof. Dr. Dieter Mersch und Prof. Winfried Gerling. „Ich arbeite gern praktisch und theoretisch“, sagt Oidtmann. „Zwischen der freien Szene und der Wissenschaft zu wechseln, ist aber nicht immer einfach.“ Deswegen beschäftige sie sich am liebsten phasenweise entweder mit der Praxis oder mit der Theorie, um sich jeweils in die Materie vertiefen zu können.
Das Unvorhersehbare als Teil der Choreografie
„Inzwischen hat sich mein ursprüngliches Thema ausgeweitet“, sagt Oidtmann. „In den Fokus sind noch stärker die Alltagsbewegungen gerückt: das Gehen, Stolpern und auch Fallen im Stadtraum.“ Die Doktorandin interessiert, was anatomisch und psychologisch beim Stolpern und beim Fall geschieht. Deswegen stellte sie an öffentlichen Orten in Berlin Kameras auf und zeichnete die Bewegungen der Menschen auf. Besonders geeignet waren tückische Stellen: Straßenbahngleise, Geschäfte im Souterrain, nasser Asphalt – eben dort, wo Menschen häufig stolpern. „Mich interessierte der Moment, bevor jemand realisiert, dass er fällt. In diesem Moment kommt etwas zur Erscheinung.“ Dann nämlich blitze die Wesenhaftigkeit eines Menschen auf. Solchen Bewegungen, die unwillkürlich, nicht beabsichtigt und unvorhersehbar sind, geht sie nach.
Auf dem Tempelhofer Feld spielte Saskia Oidtmann das Stolpern und Fallen nach. In Zeitlupe ging sie mit den anderen drei Tänzerinnen zu Boden, stand wieder auf, lehnte sich in den Wind, wie einst die Piloten in ihren Flugzeugen, die hier vor über 100 Jahren zu den ersten Flügen starteten. Sie versuchte in den Bewegungen nachzufühlen, wie ein Fall oder ein Absturz sein kann. Wie viel Gewicht kann man an den Wind abgeben, bevor man stürzt? Wann verliert der Körper seinen Schwerpunkt, seinen Stand? Was passiert, wenn der Tänzer ungeplant fällt? Die Nachwuchswissenschaftlerin geht davon aus, dass auch Choreografien, die ja auf Wiederholbarkeit abzielen, ein unwillkürliches Moment haben – obwohl das auf theoretischer Ebene ihrer Definition widerspricht. „Lassen Choreografien etwas Singuläres zu? Gibt es das Ereignishafte auch in der Choreografie?“, fragt Oidtmann. Sie hofft, das Ereignis, also die unvorhergesehene Bewegung, für die Choreografie nutzen zu können.
Mit ihrer Arbeit versucht die Kollegiatin zwei Disziplinen zu verbinden: Aus wissenschaftlicher Perspektive kann ein Ereignis nicht geplant sein, weil es einzigartig und vergänglich ist. In der Praxis arbeiten Choreografen jedoch mit der Technik der „Structured Improvisation“, der Improvisation nach festgelegten Spielregeln. „Innerhalb eines festen Rahmens gibt es für die Tänzer einen Interpretationsraum, den sie etwa durch wechselnde Tempi und Akzentuierungen verschieden füllen können. Damit gibt es auch Platz für das Singuläre und das Ereignishafte.“ Kann ein Tänzer also in der Praxis etwas erleben, das in der Theorie so nicht vorgesehen ist? „Für mich ist es jedenfalls spannend, das Originäre zu Tage zu bringen und für die Inszenierung zu nutzen“, sagt Oidtmann. Deswegen sind ihr die Alltagsbewegungen als Untersuchungsgegenstand wichtiger als Bühnenbewegungen. Daran schließt sich für sie jedoch die Frage an, ob es überhaupt eine relevante Grenze zwischen Improvisation und Choreografie gibt oder ob die beiden Begriffe möglicherweise gar keinen Gegensatz bilden. Aber was macht dann die Inszenierung zur Inszenierung?
Kunst zwischen Spontanität und Intention
„Besonders irritiert sind die Zuschauer, wenn wir nichts anderes machen als sie.“ Auf dem Wochenmarkt vorm Rathaus fühlten sich die Marktstandbetreiber fast ein wenig aufs Korn genommen, als sie die vier Tänzerinnen sahen, die ähnliche Bewegungen verrichten wie sie selbst. Kinder fragten auf dem Marktplatz: „Mama, warum läuft die Frau so langsam?“ Eine Inszenierung, die alltägliche Bewegungen zeigt, ist von tatsächlichen Alltagsbewegungen vielleicht nur noch durch eine abweichende Intention – nämlich die Absicht, Kunst zu sein – zu unterscheiden.
Dass ein Ereignis nicht zwangsläufig mit hoher Geschwindigkeit verbunden sein muss, haben die praktischen Studien bereits offenbart. Auch in der Langsamkeit können Unregelmäßigkeiten passieren. Die Performer entscheiden spontan, ob sie den entgegenkommenden Menschen auf dem Markt ausweichen, ob sie mit ihnen zusammenstoßen, ob sie eine Bewegung zurückziehen. Zwar stehen die endgültigen Ergebnisse der bewegungswissenschaftlichen Untersuchung noch nicht fest. Eine wichtige These steht aber schon: „Spontaneität und Unmittelbarkeit kann man choreografisch provozieren.“ Inwieweit Kunst dann überhaupt etwas Planvolles und Inszeniertes sein muss, ist angesichts dessen offener denn je.
Jana Scholz
Die Wissenschaftlerin
Saskia Oidtmann studierte Film- und Fernsehwissenschaft, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und an der Freien Universität Berlin sowie Bühnentanz und Choreografie am Laban Center London. Seit 2005 arbeitet sie als Tänzerin, Choreografin und Filmschaffende.
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Text: Jana Scholz
Online gestellt: Agnes Bressa
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