Potsdamer Ökonomen untersuchen, wie sich Unvollkommenheiten auf den Finanzmärkten – bei einer generellen Liberalisierung – auf den Kapitalfluss zwischen sich entwickelnden Ländern und Industrienationen auswirken. Die Forscher erarbeiten dafür theoretische Modelle, die das beobachtete Geschehen möglichst realitätsnah abbilden und erklärbar machen sollen.
Die Finanzkrise hat nicht nur die Weltwirtschaft erschüttert. Sie hat auch die Wissenschaft aufgewirbelt. Denn sie hat gezeigt, wie stark sich das Geschehen auf den Finanzmärkten auf die gesamtwirtschaftliche Leistung auswirken kann – ein Zusammenhang, den die Volkswirtschaftslehre hierzulande bisher häufig vernachlässigt hat. Das soll jetzt geändert werden: Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes „Prioritätsprogramm“ befasst sich mit den „Imperfektionen“ der Finanzmärkte und ihren Auswirkungen auf die makroökonomische Entwicklung.
„Wir versuchen, die Imperfektionen in unsere Modelle einzubauen“, sagt Maik Heinemann, Inhaber der Professur für Wachstum, Integration und nachhaltige Entwicklung an der Universität Potsdam. Gemeinsam mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Alexander Wulff bearbeitet er im Rahmen des Prioritätsprogramms das Teilprojekt „Internationale Integration von Volkswirtschaften mit heterogenen Akteuren bei Imperfektionen des Kapitalmarktes“.
Die Realität ist doch nie perfekt, staunt der Laie. Der Fachmann lacht kurz auf und sagt: „Stimmt.“ Und der Handel mit Krediten, Wertpapieren und Währungen ist es schon gar nicht. „Asymmetrische Information“ heißt eine mögliche Imperfektion im Fachjargon der Volkswirte: Unterschiedliche Akteure an den Finanzmärkten haben unterschiedliche Wissensstände. Eine weitere Unvollkommenheit nennt sich „Moral Hazard“: Versicherungen oder Kredite können die Versicherten oder Schuldner dazu verführen, sich leichtsinnig zu verhalten, zum Schaden der Institutionen. Seit den 1970er Jahren, als die Bedeutung des Finanzsektors zu wachsen begann, existierten zwar Modelle, die solche Unvollkommenheiten berücksichtigen, so Heinemann. Die Ökonomen seien jedoch davon ausgegangen, dass diese Phänomene das Gesamtsystem nicht nachhaltig zu stören vermögen und bei vielen Fragestellungen vernachlässigt werden können.
Aber wie lässt sich eine komplexe Realität voller Unwägbarkeiten abbilden? Durch Vereinfachen. „Wir machen das wie die Physiker beim idealen Gas“, sagt Maik Heinemann. Um beschreiben zu können, wie sich eine gasförmige Substanz bei Erwärmung oder verändertem Druck verhält, vernachlässigen die Physiker das Volumen der einzelnen Atome oder Moleküle, ebenso die Kräfte, die zwischen diesen wirken. So kommen sie zu einer schlanken Formel, mit der sich das Verhalten eines realen Gases ziemlich gut beschreiben lässt.
Die Ökonomen haben diese Methode übernommen. In einem Gleichgewichtsmodell mit vollkommenen Finanzmärkten spielen finanzielle Friktionen keine Rolle und individuelle Risiken sind vollständig versicherbar. Diese idealisierte Abbildung reichte aus, solange die Wirtschaft einigermaßen normal funktionierte. Was auf den Finanzmärkten geschah, ließ sich locker vernachlässigen, da es das Gesamtergebnis kaum beeinflusste. Das hat sich seit der Krise geändert: „Heute wissen wir, dass manche Finanzprodukte ein systemisches Risiko bergen.“
Daher greifen die Ökonomen jetzt vermehrt auf Modelle mit „heterogenen“ Wirtschaftssubjekten zurück, um die Auswirkungen von Unvollkommenheiten der Finanzmärkte zu analysieren. Diese Modelle beruhen auf der Annahme, dass sich selbst bei identischer Ausgangslage für alle Akteure mit der Zeit Unterschiede herausbilden. So können Schicksalsschläge oder äußere Einflüsse die Wahlmöglichkeiten einschränken, zudem gehen einzelne Handelnde auf unterschiedliche Weise mit den Einschränkungen und mit der Verteilung der Risiken um.
In dem Teilprojekt, das Maik Heinemann mit Alexander Wulff bearbeitet, geht es nun um die Frage, was geschieht, wenn sich solche heterogen zusammengesetzten Volkswirtschaften öffnen und in die internationalen Kapital- und Gütermärkte integrieren, gleichzeitig aber die Finanzmärkte keine vollständige Risikoabsicherung bieten und die Allokation, also die Verteilung von produktivem Kapital, nicht optimal funktioniert. „Uns interessieren vor allem wenig entwickelte Länder, wo diese Friktionen eine große Rolle spielen“, führt Maik Heinemann aus. Hier können die Menschen nicht unbedingt mit einem regelmäßigen und gesicherten Einkommen rechnen. Gegen dieses und andere Risiken vermag sich zudem kaum jemand zu versichern.
Nach der klassischen Theorie müsste Kapital aus reicheren Staaten in offene Volkswirtschaften armer Länder fließen, weil dort die Arbeitskraft billiger und damit die Rendite auf die eingesetzten Investitionsmittel hoch ist. Das geschieht aber in der Realität nicht. Im Gegenteil, das Kapital drängt aus ärmeren Ländern in die reichen Industrienationen. Dieses merkwürdige Phänomen wird auch als Lucas-Paradoxon bezeichnet, benannt nach dem Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1995.
„Wir versuchen jetzt herauszufinden, ob und inwieweit Imperfektionen der Finanzmärkte eine Erklärung für dieses paradoxe Verhalten liefern können“, sagt Maik Heinemann. Dafür müssen die Wissenschaftler von einem idealisierten Modell abweichen: In einem perfekt funktionierenden Finanzmarkt wären die Risiken und Chancen insgesamt gleichmäßig verteilt, weil die Informationen dazu für alle Marktteilnehmer verfügbar sind. Es gäbe auch keine Auflagen oder Einschränkungen für die Vergabe von Krediten, da das Ausfallrisiko versichert wäre. Dieser paradiesische Zustand findet sich aber nicht einmal in den Industrieländern. In weniger entwickelten Volkswirtschaften stecken die Finanzmärkte voller Imperfektionen.
Bisher existierende Modelle, die sich zur Abbildung dieses Geschehens eignen, beziehen sich auf abgeschlossene Volkswirtschaften. Die Potsdamer Ökonomen verändern diese Modelle, um sie auf Länder anwenden zu können, die ihre Märkte liberalisieren und auf dem Sprung zur Entwicklung sind. Insbesondere kommen Restriktionen im Kreditwesen und andere Faktoren hinzu. Wo gesetzliche Regelungen und staatliche Institutionen schwach sind, erhalten Unternehmen nur beschränkt Kredite, wenn sie ihre Firmen weiter entwickeln wollen, weil die Banken sich nicht ausreichend gegen schleppende oder ausbleibende Rückzahlungen absichern können. Das bedeutet, dass Kapital nicht immer dort eingesetzt werden kann, wo es besonders produktiv ist. Daraus resultiert ein Überschussangebot, das die Rendite auf die Ersparnisse der Haushalte drückt. Kommt es nun zu einem Austausch mit Ländern mit besser entwickelten Finanzmärkten, folgt das Kapital den höheren Zinsen im Ausland. Es fließt somit von Arm zu Reich. Dabei können die entstehenden Wohlfahrtseffekte für die einzelnen Individuen sehr unterschiedlich ausfallen. Haushalte mit hohem Anlagevermögen gewinnen durch den Zinsanstieg, während Kreditnehmer tendenziell unter den höheren Kapitalkosten leiden.
Solch komplexe Modelle lassen sich nicht mit Bleistift und Papier erstellen. Für die Berechnung und Beschreibung der einzelnen Mechanismen, insbesondere der unterschiedlichen Wohlfahrtseffekte, sind aufwendige Computersimulationen notwendig. „Entscheidend ist das tiefe Verständnis dafür, welche Folgen eine bestimmte Annahme in dem Modell nach sich ziehen kann“, erklärt Maik Heinemann: „Nur so können in späteren Schritten die empirischen Befunde genauer analysiert werden.“
Das Projekt
Wichtigstes Ziel des DFG-Prioritätsprogramms 1578 „Financial Market Imperfections and Macroeconomic Performance“ ist, die Forschung an der Schnittstelle zwischen Makroökonomie und Finanzwissenschaft voranzubringen. Diese habe in Deutschland bislang zu wenig Beachtung gefunden, heißt es im Forschungsantrag. An den verschiedenen Teilprojekten, die sich mit unvollkommenen Märkten, mit Spekulationsblasen oder der Geldpolitik befassen, sind Wissenschaftler mehrerer Universitäten beteiligt. Die Koordination liegt bei Prof. Dr. Tom Krebs von der Universität Mannheim. Für das Teilprojekt „International Integration in Heterogeneous Agent Economies with Capital Market Imperfections“ arbeiten Potsdamer Forscher mit Kollegen in Bielefeld zusammen. Das Programm lief 2010 an und soll bis 2015 abgeschlossen sein.
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Maik Heinemann hat sich an der Universität Hannover im Fach Volkswirtschaft habilitiert. Er hat in Frankfurt am Main, Göttingen und Lüneburg gelehrt und geforscht, bevor er 2011 an die Universität Potsdam kam. Hier hat er die Professur für Wachstum, Integration und nachhaltige Entwicklung inne.
Kontakt
Universität Potsdam
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
August-Bebel-Str. 89
14482 Potsdam
E-Mail: maik.heinemannuuni-potsdampde
Text: Sabine Sütterlin
Online gestellt: Silvana Seppä
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde