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Weg vom CO2 – Auf der Suche nach der Stadt von morgen

Smog über Hongkong. Foto: Fotolia.com/Stripped Pixel
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Smog über Hongkong. Foto: Fotolia.com/Stripped Pixel

Derzeit leben ca. zwei Drittel der Europäer und mehr als drei Viertel der Deutschen in Städten, mit steigender Tendenz. Urbanisierung ist ein weltweiter Trend. So wird geschätzt, dass im Jahr 2030 mehr als 60 Prozent der Chinesen in Städten leben werden. In Europa liegt der Anteil der Primärenergie, die in Städten verbraucht wird, heute bei rund 70 Prozent und führt zu einem etwa gleich großen Anteil an den CO2-Emissionen. Städte sind hierbei nicht nur Räume, in denen viele Probleme entstehen, sie sind auch die Räume, in denen Lösungen für diese Probleme gefunden werden können und müssen. Dabei haben Städte wie etwa Kopenhagen, Barcelona oder München schon lange eine Vorbildfunktion übernommen und arbeiten eng mit anderen Metropolen weltweit zusammen. Hier geht es dann nicht nur um Klimapolitik, sondern auch um andere umweltpolitische Probleme, etwa die Smogbelastung in den schnell wachsenden Metropolen Asiens wie z.B. Peking oder Hongkong. Prof. Dr. Kristine Kern und Dr. Ross Beveridge vom Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) forschen in Kooperation mit zwölf europäischen Partnern zur Zukunft der Stadtentwicklung – und dem Ideal einer „Post Carbon City of Tomorrow“.

Seit 2008 leben erstmals mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, von denen die größten unaufhaltsam zu sogenannten Megacities heranwachsen. Diese Entwicklung stellt Stadtplaner und Kommunalverwaltungen vor gewaltige Herausforderungen. Egal ob Energieversorgung, Verkehrsinfrastrukturen, Müll- und Abwasserentsorgung, Wohnungsbau oder öffentlicher Nahverkehr: Sie alle gilt es nicht nur an heutige – und zukünftige – Einwohnerzahlen anzupassen, sondern auch umweltverträglich zu gestalten. Allerdings ist der Klimawandel vielerorts das drängendste und greifbarste der Probleme. „In den vergangenen Jahren hat sich für die Städte die Klimafrage massiv in den Vordergrund gedrängt“, erklärt Kristine Kern, die sich schon seit 15 Jahren mit nachhaltiger Stadtentwicklung beschäftigt und an der Universität Potsdam die Professur „Governance of Urban Infrastructure and Global Change“ inne hat. Diesem zentralen Anliegen – als kleinstem gemeinsamen Nenner – verdankt das Forschungsprojekt „European Post Carbon Cities of Tomorrow“, kurz POCACITO, seinen Namen. Das Ziel: nichts Geringeres als das Modell einer Stadt von morgen. Dabei ist die Metapher der „kohlenstofffreien Stadt“ keineswegs wörtlich gemeint und als Vision auch nicht auf die Klimapolitik beschränkt. „Unter Post Carbon City ist keine Stadt ohne Kohlenstoff zu verstehen“, sagt Ross Beveridge, der gemeinsam mit Kristine Kern das IRS im Projekt vertritt. „Dahinter steckt die Idee, sich aus negativen Abhängigkeiten, die in der CO2-Belastung am deutlichsten zum Ausdruck kommen, zu lösen. Das Projekt will Möglichkeiten für eine Wende ausloten und aufzeigen, wie diese umgesetzt werden kann – für verschiedene Städte, auf verschiedenen Wegen“, so Beveridge.

Wie breit der Ansatz von POCACITO ist, zeigt sich schon an den Partnern des Vorhabens. Insgesamt 13 Einrichtungen aus ganz Europa haben sich dafür unter der Führung des Ecologic Instituts aus Berlin zusammengeschlossen. Mit an Bord sind neben analytisch und theoretisch arbeitenden Wissenschaftlern wie denen vom IRS auch Vertreter eher politikberatender und anwendungsorientierter Institutionen. Kein Wunder also, dass in der ersten Phase des seit Anfang 2014 laufenden Projekts der Rahmen abgesteckt – und heiß diskutiert – wurde, wie Beveridge einräumt. „Die Frage war: Geht es nur um konkrete politische Praktiken rund ums Klima? Oder wollen wir umfassende Visionen für einer Stadt von morgen entwickeln?“ Schließlich einigten sich die Beteiligten auf einen breiten Fokus, der nicht nur klimatische, sondern auch soziale, wirtschaftliche und weitere umweltpolitische Aspekte berücksichtigt. „Eine solch breite Definition hat Sinn, da ein enger Zusammenhang zwischen Klima- und darüber hinausgehender Nachhaltigkeitspolitik besteht“, ergänzt Kristine Kern. „Deshalb sollte beispielsweise die Energiewende in Deutschland auch als umfassender sozialer, ökonomischer, politischer Wandlungsprozess verstanden werden.“

Im nächsten Abschnitt des Projektes, das von der Europäischen Union im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm finanziert wird, gilt es, den Ist-Stand der Stadtentwicklung in Europa zusammenzutragen. Hierbei kommen die Forscher des IRS federführend zum Zuge. Sie erarbeiten drei Arbeitspapiere – sogenannte „Deliverables“ – zu den Maßnahmen, mit denen einzelne Städte, aber auch Staaten oder transnationale Städtenetzwerke die Herausforderungen angehen, vor denen sie stehen. Und mit welchem Erfolg. Das erste, bereits fertiggestellte Arbeitspapier bildet eine Zusammenstellung der „100 Leading Cities“, der 100 führenden Städte Europas, wenn es um nachhaltige Entwicklung geht. Denn auch wenn POCACITO das Modell einer „Post Carbon City“ erst entwickeln soll, so sind doch etliche europäische Städte bereits länger auf ihrem eigenen Weg dorthin, wie Kristine Kern erläutert. „Viele Städte in Europa, wie Stockholm, Amsterdam, aber auch Freiburg und München, haben vor Jahren oder gar Jahrzehnten begonnen, sich den neue Herausforderungen zu stellen und sind dementsprechend weiter als andere.“

Aus allen zur Verfügung stehenden Quellen hat Ross Beveridge Material zusammengetragen, Experten und zentrale Forschungseinrichtungen befragt sowie zahlreiche konkrete Maßnahmen analysiert, um das Inventar der führenden Städte zusammenzustellen. Der Reiz, aber auch die Schwierigkeit bestand darin, – dem gewählten Fokus folgend – auch Handlungsfelder im Blick zu behalten, die scheinbar abseits liegen: „Wir wollten die Untersuchung so vielseitig und interessant wie möglich gestalten und haben deshalb auf viele urbane Kontexte geschaut – Klima, Verkehr, Wohnungsbau“, so Beveridge. „Zugleich ging es aber auch darum zu berücksichtigen, dass beispielsweise kleine Städte vor anderen Problemen stehen und andere Ressourcen haben, um auf diese zu reagieren, als große. Ziel ist es, allen Städten Mittel an die Hand zu geben, ihre ganz individuellen Herausforderungen ihren Möglichkeiten entsprechend anzugehen.“

Im zweiten und dritten „Deliverable“ werden deshalb beispielhafte Maßnahmen, sogenannte „Good Practices“, zusammengestellt – zum einen auf städtischer, zum anderen auf nationaler und europäischer Ebene. „Dafür schauen wir überall in ganz Europa: Was haben Städte gemacht – und sind es auch ‚Good Practices‘?“, erklärt Beveridge. Beispiele gibt es viele: In Kopenhagen etwa, das ohnehin als Europas heimliche Fahrradmetropole gilt, wurden überall im Stadtgebiet kostenlos ausleihbare Räder aufgestellt. München wiederum verfügt schon länger über ein Gebäudeeffizienzprogramm, und in Stockholm bemüht man sich darum, Verwertungskreisläufe zu schließen, indem etwa mithilfe der Müllverbrennung zugleich Gebäude mit Fernwärme versorgt werden. Malmö setzt auf eine umfangreiche Nachhaltigkeitsstrategie. „Uns interessieren aber auch sozial nachhaltige Initiativen. Wie gehen die Städte mit sozialen Notlagen um?“, sagt Kristine Kern. „So hat Malmö im Rahmen seines Wohnungsbauprogramms im lange ungenutzten Hafengebiet neue, sehr energieeffiziente Häuser gebaut, deren Wohnungen zugleich für einkommensschwächere Einwohner bezahlbar sind.“

Andere Themen werden indes eher in transnationalen Städtenetzwerken angegangen, zu denen sich Kommunen zusammenschließen, die ähnliche Anliegen haben und gemeinsam wirkungsvoller agieren können. „Der ‚Covenant of Mayors‘ etwa vertritt mittlerweile über 6.000 Städte Europas mit rund 190 Millionen Einwohnern“, so Kern. In der 2008 gestarteten Initiative engagieren sich Kommunen mit dem Ziel, die von der EU vorgegebene Reduzierung der CO2-Emissionen um 20 Prozent bis zum Jahr 2020 noch zu übertreffen. „Solche Netzwerke bieten einen Weg, um von lokalen Maßnahmen zu einem allgemeineren, umfassenderen Plan zu kommen.“ Das Netzwerk „Energy Cities“ etwa, deren 200 Mitglieder aus 30 Ländern sich für nachhaltige Energiepolitik in ihren Gemeinden einsetzen, ist einer der 13 Projektpartner.

Ziel der Analyse ist die Entwicklung einer Typologie von Städten und Entwicklungspfaden, die dabei helfen soll, erfolgreiche Strategien und Maßnahmen in anderen Städten weltweit zu adaptieren. Der Katalog soll indes nicht nur die Fülle und Vielfalt an möglichen Initiativen zeigen und bereitstellen, sondern vor allem andere dazu anregen, einen Anfang zu machen: „So eine Typologie würde Städten helfen, die jetzt noch nicht so weit sind. Sie würde ihnen einen Weg aufzeigen, was sie machen können, ohne dass sie gleich Malmö oder Stockholm werden“, sagt Beveridge. „Es ist wichtig zu vermitteln, dass es immer etwas gibt, was eine Stadt tun kann. Und wenn es nur etwas Kleines ist, das signalisiert, dass die Probleme erkannt sind und ernst genommen werden. Auch erste Schritte sind schon ‚Good Practice‘.“

So breit der thematische Fokus von POCACITO im ersten Abschnitt, der Fragestellung und Analyse, ist, so eng – und lokal – ist er, wenn es ins Detail, sprich: die Stadt, geht. In Zusammenarbeit mit acht europäischen Städten, darunter Metropolen wie Barcelona oder Istanbul, aber auch kleinere Gemeinden wie Litoměřice in Tschechien oder Rostock, werden Fallstudien zu diesen Städten erarbeitet. Und zwar im direkten Austausch mit den Bürgern vor Ort. Den ersten Schritt bildet eine Bestandsaufnahme bereits umgesetzter Vorhaben in den relevanten Bereichen – von Infrastrukturmaßnahmen über die Klimapolitik bis hin zum Wohnungsbau. Anschließend werden im Austausch zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern und angeleitet von Projektpartnern von POCACITO Visionen entwickelt, was man gemeinsam umsetzen will – und zwar ganz konkret bis zum Jahr 2050. „Am Ende soll eine ‚Roadmap‘ entstehen, die exakt festlegt, was bis wann geschehen muss, damit das Ziel auch erreicht werden kann“, erklärt Kern.

Die von den Wissenschaftlern des IRS erarbeiteten „Deliverables“ dienen als Arbeitsmaterial für die Workshops in den ausgewählten Städten. Umgekehrt begleiten Kern und Beveridge die weiteren Arbeitsphasen und sorgen für die wissenschaftliche Veröffentlichung der Ergebnisse. Denn diese sollen später nicht nur der Wissenschaft, sondern all jenen Städten zur Verfügung stehen, die sich nach Abschluss des Projektes ebenfalls auf den Weg machen wollen, eine „Post Carbon City of Tomorrow“ zu werden.

Das Interesse an der europäischen Initiative ist groß, wie Kristine Kern anfügt. „Europa und europäische Städte sind ein Stück weit Vorreiter auf diesem Gebiet.“ Deshalb soll POCACITO in einen „Markplatz der Ideen“ münden, auf dem sich dann Städte aus aller Welt inspirieren lassen können.

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Kristine Kern studierte Verwaltungswirtschaft in Stuttgart sowie Volkswirtschaft und Politikwissenschaft in Tübingen und Berlin. Seit 2012 ist sie Professorin für „Governance of Urban Infrastructure and Global Change“ an der Universität Potsdam und Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS).

Kontakt

Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung
Flakenstraße 28–31
5537 Erkner
E-Mail: kristine.kernuni-potsdamde

Dr. Ross Beveridge studierte Geschichte in Manchester und International Studies in Newcastle, wo er 2010 auch promovierte. Seit 2010 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am IRS.

Kontakt

E-Mail: Beveridgeirs-netde 

Das Projekt

Post-Carbon Cities of Tomorrow – foresight for sustainable pathways towards liveable, affordable and prospering cities in a world context (POCACITO)

Beteiligt: 13 Projektpartner aus ganz Europa unter der Leitung des Ecologic Institute; am IRS: Prof. Dr. Kristine Kern, Dr. Ross Beveridge

Laufzeit: 2014–2016

Finanzierung: Europäisches 7.Rahmenprogramm

Mehr Informationen unter: http://pocacito.eu/

Text: Matthias Zimmermann, Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde