Wasserwerfer rollen, Schlagstöcke werden geschwungen, Tränengas liegt in der Luft. Der Schlossgarten von Stuttgart hat sich in einen Ort der Gewalt, des Chaos, der Wut und Verzweiflung verwandelt. Es ist der 30. September 2010. Der Tag, an dem die Proteste gegen das Projekt „Stuttgart 21“ eskalieren. Wie konnte das geschehen? Diese Frage stellten sich Politiker, Bürger, Journalisten und Wissenschaftler fassungslos. Jochen Franzke, Professor für Verwaltungswissenschaft, sieht in den Ereignissen rund um das Großprojekt ein Zeichen dafür, dass sich unsere Gesellschaft grundlegend verändert hat. „Lokale Demokratie“ und „Bürgerbeteiligung“ sind dabei die Stichworte. Der Wissenschaftler erforscht, wie sich lokale Demokratie entwickelt und welche Folgen das hat.
„Wir leben in einer ziemlich dynamischen Zeit“, sagt Jochen Franzke. Mitreden und mitentscheiden – dies sei für Bürger heute wichtiger denn je. „Und sie wollen sich nicht für dumm verkaufen lassen“, betont der Verwaltungswissenschaftler. Gerade in Baden-Württemberg mischten sich die Bürger schon längere Zeit in die Politik ein – etwa über Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen. Doch die traditionelle Protestkultur in Deutschland kam bisher vor allem aus dem linken Spektrum. Gegen Stuttgart 21 protestierten jedoch nicht nur Alt-68er, Umweltaktivisten oder Studierende. Der Wissenschaftler verdeutlicht: „Hier gab es eine ganz andere Zusammensetzung, eine repräsentative Mischung der Gesellschaft.“ Ganze Familien und Schüler protestierten neben Älteren, die noch nie zuvor in ihrem Leben auf einer Demo waren. Dass die Behörden schließlich Gewalt einsetzten, sei ein Schock gewesen, sagt der Wissenschaftler. „Das konnte man vielleicht vor 50 Jahren machen, aber doch nicht heute.“ Öffentlicher Protest ist kein Phänomen von Randgruppen mehr. Er ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und wird als Instrument gegen unliebsame Entscheidungen genutzt.
„Früher hatte man nur eine einzige Möglichkeit, sich in die Kommunalpolitik einzumischen: Indem man zur Wahl ging“, sagt Jochen Franzke. Die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen sinke jedoch seit Jahren kontinuierlich, unterstreicht der Forscher: „In den letzten 25 Jahren um 20 Prozent.“ Von „Politikverdrossenheit“ oder politischem Desinteresse ist die Rede. Dem gegenüber steht jedoch die Tatsache, dass die Zahl der Bürgerentscheide steigt. Über 6.000 Mal entschieden sich die Menschen in Deutschland bisher auf diesem direktdemokratischen Wege. Im Jahr 2013 in München etwa gegen eine deutsche Olympiabewerbung, in Aachen gegen den Bau einer neuen Straßenbahnlinie, in Bernau für ein Mitspracherecht beim Bau zukünftiger Straßen. In jüngster Zeit fallen Bürgerentscheide besonders häufig zu Ungunsten der Privatisierung kommunalen Eigentums aus. Wohnungen, Wasserbetriebe oder Müllabfuhr – geht es nach den Bürgern, bleibt all dies in öffentlicher Hand. „Da hat sich die Stimmung in den vergangenen Jahren gedreht“, stellt Franzke fest.
Neu ist auch, dass Bürger zunehmend auf Ebene der sogenannten „Kooperativen Demokratie“ aktiv werden: als Diskutanten in Bürgerversammlungen und an Runden Tischen, als Experten in Bürgergutachten oder als Ideengeber in Zukunftswerkstätten. Politikwissenschaftler Franzke betont: „Die Ressource, die die Bürger hier einbringen können – das Bürgerwissen –, ist Gold wert und wurde lange unterschätzt.“
Nun bemühen sich Stadt- und Gemeinderäte, Bürgermeister und kommunale Verwaltungen zunehmend darum, die Bürger mit ins Boot zu holen. Anwohner werden angehört, wenn es um bauliche Veränderungen in ihrer Nachbarschaft geht. In Einwohnerversammlungen werden soziale Themen diskutiert – in Potsdam etwa jüngst die Integration von Flüchtlingen in ein Wohngebiet. In Bürgerhaushalten können Stadtbewohner mitbestimmen, wofür ein Teil des Haushaltsbudgets ausgegeben wird. Gleichzeitig kann die Verwaltung über den Bürgerhaushalt erkennen, was den Bürgern wichtig ist: „In Berlin-Lichtenberg waren Radwege ein wichtiger Punkt. Kein Politiker hatte davor auf dem Schirm, dass die Leute mehr Radwege wollen“, verdeutlicht Franzke. Hier zeigte sich: Bürgerbeteiligung wirkt auch umgekehrt. In Lichtenberg haben sich die Verwaltungsstrukturen geändert und an die Bedürfnisse der Bewohner angepasst. Heute sind Stadtteilmanager vor Ort und so nah wie möglich am Bürger.
Können Bürger mitreden, akzeptieren sie eher schwierige Entscheidungen. Damit dies gelingt, gilt es, rechtzeitig zu handeln: „Früher hat man die Bürgerbeteiligung erst begonnen, als eigentlich alles schon entschieden war“, sagt Jochen Franzke. „Das ist Politik des 20. Jahrhunderts.“ Heute gilt: Bereits in der Planungsphase zu Großbauprojekten oder anderen einschneidenden Ereignissen sollen die Menschen beteiligt werden. Transparente Verfahren sind dabei ein wichtiger Baustein. Denn nur derjenige, der auch versteht, was geplant ist und was geschieht, kann sich einbringen. Heute bieten digitale Medien neue Möglichkeiten, dies auch zu verwirklichen. „Die Stadt Köln hat einen Online-Bürgerhaushalt eingeführt. Die meisten Vorschläge kamen in der Nacht, zwischen drei und vier Uhr.“ Franzke schmunzelt: „Zu dieser Zeit hat kein Bürgerbüro geöffnet.“ Das Beispiel zeige, dass man mit modernen Methoden andere Gruppen erreiche als mit den klassischen Angeboten.
Mitunter gelangt die neue lokale Demokratie an ihre Grenzen. „Wir müssen uns als Verwaltungswissenschaftler die vielen neuen Instrumente genauer angucken“, so Franzke. Denn die Bürgerbeteiligung leide unter einem großen Problem: „Sie ist sozial verzerrt.“ Männer beteiligten sich häufiger als Frauen, Menschen mit gutem Einkommen engagieren sich eher als Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind. „Benachteiligte Gruppen haben sich aus der Beteiligung faktisch zurückgezogen“, erklärt der Wissenschaftler. „Wenn man um seine eigene Existenz kämpft, hat man nicht viel Zeit für Partizipation.“ Gerade in benachteiligten Stadtgebieten erreichten die bisherigen Möglichkeiten die Menschen nicht. Entsprechend groß sei die Enttäuschung und Frustration. „Hier muss man neue Instrumente entwickeln.“
Gleichzeitig sieht der Wissenschaftler auch das Problem der Unübersichtlichkeit: Mehr als 60 Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung gebe es bisher. Das seien zu viele und teilweise auch widersprüchliche Angebote. Denn trotz aller Bürgerbeteiligung gelte: „Am Ende muss entschieden werden, und wir werden niemals die Situation haben, dass alle zufrieden sind.“
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Jochen Franzke studierte Außenpolitik in Potsdam und ist seit 2008 außerplanmäßiger Professor für Verwaltungswissenschaft. Neben Fragen zur lokalen Demokratie erforscht er Wandlungsprozesse in der Europäischen Union und in Mittel- und Osteuropa.
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Text: Heike Kampe, Online gestellt: Agnes Bressa
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