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AMOK – Prof. Heiko Christians gibt einem Gegenwartsthema eine Geschichte

Es sind Gewalttaten, die besonderes Entsetzen und Fassungslosigkeit auslösen – Amokläufe fordern häufig zahlreiche Todesopfer. Meist waren diese lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Gewaltexzesse sind jedoch keine Erscheinung der Gegenwart. Sie besitzen auch eine geschichtliche und kulturelle Dimension. Der Potsdamer Forscher Heiko Christians geht dem Phänomen aus historischer Sicht auf den Grund und berücksichtigt dabei auch die Rolle der Medien.

Panik an der Steuben-Gesamtschule in Potsdam: Im März 2014 entdeckt eine Schülerin auf der Mädchentoilette eine Amokwarnung. Sofort entstehen im Kopf grausame Bilder. Geprägt von Katastrophen wie in Columbine, Erfurt, Winnenden oder auf der norwegischen Insel Utøya ist Amok zu einem sensiblen Thema geworden. Viele Schulen haben mittlerweile spezielle Alarmsysteme, um die Nachricht über einen Amoklauf innerhalb des Schulgebäudes schneller zu streuen und sich so zu schützen. An der Steuben-Schule Potsdam wird die Drohung ernst genommen. Zwar findet der Unterricht regulär statt, doch nur unter strengster Bewachung der Eingänge durch die Polizei.

„Man kann davon ausgehen, dass Leute so etwas Scheußliches nicht spontan tun, sondern von langer Hand planen“, glaubt der Medienkulturhistoriker Professor Heiko Christians. „Es dauert eine Weile, bis Menschen sich so konditioniert haben, dass sie einen Amoklauf systematisch durchführen können. Auch der Täter von Oslo, Anders Behring Breivik, bereitete sich offensichtlich fünf Jahre auf die Tat vor und präparierte sich für den Amoklauf auf der Insel und die Anschläge in der Osloer Innenstadt mit Musik und Medikamenten.“ Heiko Christians hat sich intensiv mit dem Thema Amok auseinandergesetzt. 2008 erschien sein Buch „Amok. Geschichte einer Ausbreitung“.

Christians nähert sich dem Thema historisch, recherchiert, wie mit dem Phänomen umgegangen wurde, bevor es in aller Munde war. Immer geht es dabei immer um Medien. Denn sie sind, so die These der Professur für Medienkulturgeschichte, unweigerlich an Geschichte gekoppelt. „Wenn wir als kulturelle Wesen agieren, so agieren wir immer auch medial“, erklärt Christians. „Geschichtsbewusstsein gibt es natürlich erst, seitdem etwas aufgeschrieben wird. Wir können Vergangenheit nicht länger ins Gedächtnis rufen, als unsere Erinnerung ohne Hilfsmittel reicht. Erst in dem Augenblick, wo wir anfangen, Felsstelen, Palmblätter, Tierhäute oder Papyrus zu beschreiben, schaffen wir auch Geschichte. Kulturgeschichte ohne Mediengeschichte ist schon aus diesem Blickwinkel Unfug.“

Die Universität Potsdam war lange Zeit die einzige Hochschule, die aus diesem Ansatz auch institutionell Schlüsse gezogen hat und Kulturgeschichte nicht länger getrennt von Mediengeschichte betrachtet und lehrt. Am Institut für Künste und Medien ist man sich darin einig, dass Gegenstände mit klarem Bewusstsein für die Medialität kultureller Praktiken zu historisieren sind. Es gibt Historiker, die das immer noch anders sehen. „Diese reden dann von Ereignisgeschichte, vielleicht von Strukturgeschichte oder Sozialgeschichte, aber Infrastrukturgeschichte und Mediengeschichte bleiben dann wunderbarerweise ein Sonderbereich“, sagt Christians.

Im Wintersemester 2004/2005 hat Christians das erste Mal eine Vorlesung zum Thema Amok angeboten. Es ging ihm auch darum zu schauen, ob sich 14 Vorlesungen à 90 Minuten damit füllen lassen. „Die Vorlesung ist immer ein gutes Instrument, einen Gegenstand zu portionieren, in historische Abfolge zu bringen und in eine Reihe von Fragen aufzulösen. Das wurde leider mit Einführung des Bachelor- und Masterstudiums erschwert, da seitdem Vorlesungen nicht mehr automatisch aktuell laufende Forschung repräsentieren, sondern in der Regel auf Grundlagenwissen und Einführungen begrenzt sind. Das ist etwas, dass ich extrem bedauere.“

„Amok hat eine Geschichte“ – allein diese Behauptung stieß noch im Jahr 2008 häufig auf Unverständnis, erinnert sich Christians, der in Köln studiert hat und am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft von Wilhelm Voßkamp ausgebildet wurde. „Es war eine unglaubliche Puzzlearbeit, dem Amok überhaupt eine Realität zu geben, jenseits der Tatsache, dass die Leute geschockt sind, wenn es passiert, und solche Taten in Zukunft verhindern wollen.“

Die historische Einordnung des Amoklaufs führt in den damals malaiischen Kulturraum, dem heutigen Indonesien. Reisetagebücher berichteten seit etwa 1600 immer wieder von Kriegern der malaiischen Kleinkönig- und Fürstentümer, die Amoktaten begingen. Die Kolonialmächte vor Ort, vor allem Engländer und Holländer, sahen darin eine Gefahr für die auferlegte Ordnung und bestraften die Krieger drakonisch.

Mit der Aufklärung veränderten sich die Diskurse über diese Taten. Waren sie zuvor geprägt von der „aufgeklärten“ Rassen- und Farbenlehre eines Kant oder Blumenbach, die zwischen „Braunen“, „Gelben“ und „Schwarzen“ unterschied und entsprechend stereotypisierte Charaktereigenschaften zuordnete, wurden die Gewaltexzesse im 19. Jahrhundert nicht mehr einer kollektiven Farben- und Charakterlehre unterstellt, sondern individualisiert. Was nur hieß, dass sie psycho-pathologisiert wurden. Die Täter wurden als vermeintlich Kranke in seit etwa 1850 gegründeten staatlichen Irrenanstalten in den Kolonien interniert und beobachtet. Der ursprüngliche soziologische und zeremonielle Kontext des Amoklaufs verschwand damit. Doch diesen gab es durchaus in der malaiischen Wahrnehmung. Der Amok besaß eine Funktion: Eine Kränkung musste ab einem gewissen Punkt durch ein bestimmtes Repertoire an kriegerischen Handlungen aus der Welt geschafft werden. Das Gleichgewicht und das Ansehen des Kriegers und seiner Sippe waren damit – für alle sichtbar – wiederhergestellt. Diesen Kontext leugneten die Kolonialmächte. Stattdessen sahen sie im Amoklauf lediglich einen krankhaften Wahn.

Erst als 1948 mit dem, von der US-Pazifik-Flotte unter McArthur, erzwungenen Abzug der Niederländer keine Kolonialmächte mehr auf dem sich bildenden Territorium Indonesiens vor Ort waren, konnte Amok nicht mehr uneingeschränkt von außen als kolonial-exotisches Phänomen kommuniziert werden. Diese Anstrengung verlagerte sich vielmehr gänzlich bis etwa in die 1970er Jahre in die westliche Reise- und Unterhaltungsliteratur. Die ehemaligen erzählenden Kolonialärzte aus Stefan Zweigs Bestseller-Novelle „Amok“ von 1922 wurden sozusagen verspätet Realität.

Viele der später von den Medien ex post als „Amok“ rubrizierten Taten wurden von Veteranen des Korea- und des Vietnamkriegs begangen. Der erste klassische Fall eines sogenannten Campus Shooting ereignete sich 1966 in Austin, Texas. Ein ehemaliges Mitglied des United States Marine Corps erschoss von der Aussichtsplattform der Universität Austin wahllos Menschen. „Dies ist auch der erste Amokfall, der filmisch dokumentiert wurde, sodass sich dann die Topik und Motivik des modernen Amoklaufs in den Bewegtbild-Medien ausbreitete“, erklärt Christians.

„Doch die Medien spielen nicht erst heute eine wichtige Rolle. Im 17. Jahrhundert entsteht so etwas wie moderne Unterhaltungsliteratur und Amok war sofort ein wiederkehrendes Motiv. Im 19. Jahrhundert war es dann so, dass Amok vollkommen in rassistischer Publizistik aufging. Der Malaie war also entweder träge, ungehorsam, feige und still oder er war eben explosiv, mörderisch und wütete unter den Kolonialmächten. Dieses doppelte Stereotyp wurde von den Kolonialmächten als Rechtfertigung herangezogen, ein ‚väterlich-strenges‘ Regiment zu errichten und entsprechende Werte zu implementieren, eine immer dichtere Verwaltung zu installieren und die Menschen zu christianisieren“, verdeutlicht Christians.

Die Medien waren demnach von Anfang an federführend beteiligt und prägten maßgeblich den Diskurs über Amok. Lediglich die Art der medialen Aufbereitung ändert sich. Sie ist nicht mehr nur textuell, sondern wird filmisch und ist so auch kompatibel mit Computerspielen. „Es ist ein dankbares Motiv für filmische Adaptionen. Zum Teil hat man riesige metaphorische Apparate geschaffen“, erklärt Christians. Besonders problematisch sei jedoch: „Nicht nur die Phase der Anbahnung, die unsichtbar bleibt, ist schwer visualisierbar. Eine Herausforderung ist es auch, den Ausbruch selbst zu visualisieren, ohne die tatsächlich stumpf-serielle Brutalität der Tat zu zeigen“, so der Medienkulturhistoriker.

Auch wenn das Thema Amok an Präsenz nicht verliert und Heiko Christians häufig darauf reduziert wird, so ist er mit seinen Gedanken aktuell doch ganz woanders. Im kommenden Frühjahr erscheint sein Buch „Crux Scenica. Die Geschichte der Szene von Aischylos bis Youtube“, in dem er eben diese als sogenanntes Tool, als Werkzeug, aus der Theater- und Filmrealität herausgelöst betrachtet. Christians leitet die Szene als Instrument historisch her und setzt sich mit verschiedenen Fragen auseinander: Wo wird die Szene benutzt? Welche Funktionen hat sie? Und welche Leistungen bringt die Szene mit, dass sie so omnipräsent ist? Was macht Szenen in darstellerischen Zusammenhängen effektiver als ganze Geschichten? Außerdem gibt Heiko Christians gemeinsam mit Kollegen aus Princeton und Köln ein umfangreiches Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs heraus, das dieses Jahr bei Böhlau erscheint und zur Buchmesse in Frankfurt präsentiert wird. „Wir möchten damit medialen Gebrauchsweisen wie Blättern, Funken oder Zappen, die wir ohnehin jeden Tag praktizieren oder präsent haben, eine historische Realität zurückgeben.“

Auch bei einem Amoklauf spielt, neben psychosomatischen Faktoren, der Mediengebrauch eine bestimmte Rolle. „Ins Täter-Profil passen nicht automatisch Einzelgänger, die gerne ein komplettes Wochenende vor dem PC verbringen. Im Gegenteil: Viele der Amoktäter haben bis kurz vor der Tat regen Kontakt mit ihren Freunden. Es gibt also einen unauflösbaren Rest, der das Ganze vielleicht so bedrohlich macht“, meint Christians. „Ich denke jedenfalls, wer es groß an die Toilettentür schreibt, der wird es dann eher nicht machen.“ Im Fall der Potsdamer Gesamtschule traf das zum Glück zu.

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Heiko Christians studierte Germanistik, Philosophie, Pädagogik und Niederlandistik in Köln. Seit 2008 hat er eine der deutschlandweit seltenen Professuren für Medienkulturgeschichte am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam inne.

Kontakt

Universität Potsdam
Institut für Künste und Medien
Am Neuen Palais 10
14469 Potsdam
E-Mail: heikochristianst-onlinede

Text: Sophie Jäger, Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde