Im Büro von Ralf Metzler hängt eine große Wandtafel. Sie ist voll beschrieben – mit Formeln, vor allem. Faszinierend, auch für den Laien, wenngleich völlig unverständlich, furchteinflößend. Am unteren Rand aber „regieren“ Kinderzeichnungen – ein Haus, lachende Menschen, ein Garten. Jeder hier, erklärt Metzler, dürfe an die Tafel schreiben. Forschung brauche ständigen Austausch – „schwätzen“ nennt es der gebürtige Schwabe und lacht. Die Zeichnungen aber sind heilig und dürfen keiner Formel zum Opfer fallen. Sie sind Zeichen der Besuche seiner Tochter. Ein Stück Realität, ohne die auch hier nichts geht.
Zwei vermeintlich so entfernte Welten zusammenzubringen, scheint für Ralf Metzler kein Problem, sondern vielmehr Selbstverständlichkeit und Anliegen zu sein. Was komplex ist, müsse sich einfach erklären lassen, betont er: „Wenn man Physiker ist, muss man das, was man erforscht, erklären können. Was tatsächlich passiert, ist auch unserer Vorstellung grundsätzlich zugänglich.“
Deshalb spricht er in Bildern und nicht in Formeln, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Derzeit forscht er zur Genregulierung. Also dazu, wie Prozesse in Zellen ablaufen und wie sie gesteuert werden. In der „Molekülsuppe“ von Zellen gehe es zu „wie nach einem Fußballspiel auf dem Bahnsteig: Da stoßen sich alle um“, sagt der Physiker. Einzelheiten ließen sich in diesem unübersichtlichen Gewirr schlecht beobachten – zu winzig seien die Teilchen, die dort interagieren. Die Technik und Mittel, derart kleine Elemente ausmachen und verfolgen zu können, seien in den vergangenen Jahren überhaupt erst im Experiment entwickelt worden. Vor allem aber seien es schlicht zu viele Teilchen, die sich innerhalb einer Zelle permanent beeinflussen, als dass die Wechselwirkungen genau beobachtet und erklärt werden könnten. Hier nun komme die „statistische Mechanik“ ins Spiel: „In der Mechanik, die wir schon aus der Schule kennen, lassen sich zwei Massekugeln und ihre Bewegungen exakt beschreiben, bei dreien geht das schon nicht mehr. Aber was wieder geht: Wenn man wahnsinnig viele Teilchen hat und nicht mehr nach dem Einzelnen, sondern nach allen gemeinsam schaut. Dann sind wir wieder dabei!“, triumphiert Metzler. „Denn da geht es um Wahrscheinlichkeiten, das typische Verhalten der Teilchen – wie bei Tausenden von Menschen im Fußballstadion … und dann kleidet man das in wunderschöne Mathematik.“
Entwickelt wurde die Grundidee der statistischen Mechanik von dem österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann, der die Thermodynamik in die Sprache der modernen Physik übersetzt hat. Ursprünglich mit dem Ziel, Dampfmaschinen effektiver zu machen. In der biologischen Physik und Mikrobiologie ist sie erst seit wenigen Jahren angekommen: „Eine kleine Revolution ist gerade im Gange“, sagt Metzler. „Die vielen Prozesse, die innerhalb einer Zelle auf engstem Raum ablaufen, wurden lange isoliert voneinander betrachtet – Protein X wurde in wässriger Lösung mit Y kombiniert und dann beobachtet. Die ablaufenden Vorgänge wurden vor allem als von der Zeit abhängig betrachtet. Mittlerweile ist jedoch klar, dass es ebenso wichtig ist, wo und wie nah beieinander sie in der Zelle tatsächlich stattfinden.“
Ein Großteil der Genregulierung und Signalausbreitung innerhalb von Zellen geschieht in Form von Diffusion – auf der Grundlage thermischer Ausgleichsstöße der Moleküle untereinander. „Das ist wie ein Stück Zucker, das, wenn man es in den Tee wirft, nach einiger Zeit den Tee gleichmäßig süß macht. Oder wie die olfaktorischen Moleküle eines guten Parfüms, die man fast sofort im ganzen Raum riechen kann“, so Ralf Metzler. Durch experimentelle Beobachtung lässt sich dieser Vorgang allerdings nicht rekonstruieren, zu komplex ist das Zusammenspiel der zahllosen Moleküle. Dort nun kommen die Physiker ins Spiel der Biologen, erklärt der Forscher. „Weil wir eine andere Sprache sprechen. Ein Biologe sieht immer die einzelne Zelle in ihrer Besonderheit und Komplexität. Wir betrachten sie als etwas Abstraktes und basteln mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung unsere Modelle darum herum.“
Letztlich, betont der Physiker, brauche man beides: den innovativen abstrahierenden Ansatz und seine praktische, experimentelle Überprüfung und Anwendung. „Erst wenn das, was wir vorhersagen, auch eintrifft, werden wir wirklich ernst genommen. Und genau da sind wir gerade.“
Konkret untersucht Ralf Metzler derzeit den aktiven Transport von Stoffen innerhalb der Zelle durch zelleigene Motoren. Wenn es gelänge, diese Maschinerie so genau zu verstehen, dass man sie kapern könnte, wäre es beispielsweise viel einfacher, Medikamente in Zellen an die gewünschten Stellen zu bringen. Noch ist diese Vorstellung Zukunftsmusik. An der Tafel in Metzlers Büro dürfte es bis dahin noch viele neue Formeln geben, doch er ist zuversichtlich. Bereits einen Schritt weiter ist das sogenannte Taschentuchlabor, ein Verbundprojekt, an dem das Team um Ralf Metzler und Kollegen des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik gemeinsam mit verschiedenen Forschungseinrichtungen deutschlandweit arbeiten. Die Idee ist simpel: Ein „intelligentes“ Taschentuch „erkennt“, wenn man hineinschnaubt, ob man beispielsweise eine echte Grippe oder eine harmlose Erkältung hat. Um etwa Viren im Taschentuch erkennen zu können, muss man wissen, wie sie sich dort bewegen. Genau das konnten Metzler und sein Team modellieren. Nun sind die Ingenieure am Zug.
Überhaupt sieht er die Möglichkeiten der statistischen Mechanik noch keineswegs ausgeschöpft. Es ist durchaus möglich, dass auch in anderen Gebieten und größeren Skalen mit ihrer Hilfe Modelle für Bewegungen vieler Körper – dem Schwarmverhalten – möglich werden: Wie breiten sich Krankheiten aus? Wie lässt sich Verkehr organisieren? Wie bewegen sich Menschenmassen? „Die Welt der Zelle ist fraglos die ideale Skala für unsere Modelle passiver Bewegung, denn sie wird von der Diffusion durch thermische Anregung geradezu bestimmt. Das ist bei Menschen, die sich aktiv bewegen, natürlich nicht der Fall. Aber was ist, wenn andere Dynamiken greifen, etwa im starken Gedränge oder bei einer Panik? Dann nähert sich das schon an“, erklärt Metzler. „Es schadet nicht, ab und zu einmal über den Rand unseres Tellers zu sehen und zu schauen, was – wissenschaftlich gedacht – noch möglich ist.“ Unlängst hat Ralf Metzler dafür Wissenschaftler aus aller Welt, die zum Schwarmverhalten forschen, nach Potsdam eingeladen. Und sie haben „g’schwätzt“, wie der Schwabe lächelnd sagt. „Es ging zur Sache“, ergänzt er zufrieden.
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Ralf Metzler studierte Physik an der Universität Ulm, wo er auch promovierte. Seit 2011 ist er Professor für Theoretische Physik an der Universität Potsdam.
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Universität Potsdam
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