Im Jahr 2005 begannen die ersten Datenerhebungen. Bis heute haben etwa 3.000 Kinder und Jugendliche wiederholt an der sogenannten PIER-Studie (Potsdamer intrapersonale Entwicklungsrisiken) teilgenommen. Die groß angelegte Untersuchung wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und geht auf eine Initiative von 13 Psychologen der Universität Potsdam zurück. Im Rahmen eines Graduiertenkollegs untersuchen momentan zwölf Promovenden und drei Postdoktoranden, wie sich die Studienteilnehmer im Laufe der Zeit entwickeln. Dabei legen die Forscher ein besonderes Augenmerk auf die intrapersonalen Risikofaktoren – also jene psychischen Eigenschaften, die problematische Entwicklungen begünstigen können. Die Wissenschaftler untersuchen etwa, ob Depressionen, Essstörungen oder Lernschwierigkeiten durch übertriebenen Perfektionismus oder ein geringes Selbstwertgefühl ausgelöst und verstärkt werden. Mit Sprecherin Prof. Dr. Birgit Elsner und Projektkoordinatorin Dr. Juliane Felber sprach Heike Kampe.
In der PIER-Studie untersuchen Sie seit 2005 kontinuierlich, wie sich Kinder und Jugendliche entwickeln. Die damals vier- bis elfjährigen Probanden der ersten Testgruppe sind heute bereits Jugendliche oder junge Erwachsene. Im Jahr 2011 wurde die Studie um eine zweite Testgruppe von sechs- bis neunjährigen Kindern erweitert. Was wollen Sie herausfinden?
ELSNER: Wir wollen bestimmte Faktoren identifizieren, die darüber entscheiden, ob sich ein Kind normgerecht entwickelt, oder ob es zu Entwicklungsproblemen kommt. Hier betrachten wir drei größere Bereiche. Einmal ist das der Bereich der Lern- und Leistungsstörungen – dazu gehören etwa Probleme beim Lesen oder Rechnen. Der zweite Bereich umfasst die sogenannten externalisierenden und internalisierenden – also nach außen und nach innen gerichteten – psychischen Probleme. Hier betrachten wir hauptsächlich Aggressivität und depressive Symptomatiken. Der dritte Bereich betrachtet schließlich Probleme, die mit dem Essverhalten und dem Gewicht verbunden sind. Obwohl wir den Einfluss des äußeren Umfelds, wie Elternhaus oder Schule, anerkennen, gilt unser Augenmerk den intrapersonalen Risikofaktoren.
Warum widmen Sie sich in der PIER-Studie vor allem diesen inneren Risikofaktoren?
ELSNER: Bisher wurden diese Risikofaktoren in einem so großen Umfang und mit dieser ausführlichen Systematik noch nicht untersucht. Es fehlte die spezifische Betrachtung einzelner Faktoren. Wir untersuchen etwa die Fähigkeiten, sich zu konzentrieren, das eigene Verhalten zu steuern oder mit negativen Emotionen umzugehen, oder auch die eigene Motivation. Verschiedene Umwelten können Kinder unterschiedlich beeinflussen, aber wie eine ähnliche Umwelt auf verschiedene Kinder wirkt, ist davon abhängig, wie das Kind zum Beispiel Stressoren verarbeiten kann.
FELBER: Wir wollen den Einfluss der Umwelt nicht bestreiten. Letztlich geht es aber immer um eine Interaktion zwischen Person und Umwelt. Wir konzentrieren uns auf die innerpsychischen Faktoren, um hier fundierte und umfassende Aussagen treffen zu können, die es bisher so nicht gibt. Ein großer Vorteil unserer Studie ist es, dass wir die einzelnen Faktoren in Interaktion betrachten können: Inwieweit greifen Risikofaktoren ineinander, wo heben sie sich womöglich auf? Das kann man sich sehr viel besser anschauen, wenn man verschiedene innerpsychische Faktoren betrachtet.
Welche Daten erheben Sie, um Aussagen über innere Risikofaktoren treffen zu können?
ELSNER: Wir haben eine umfangreiche Testbatterie mit ganz unterschiedlichen thematischen Komponenten zusammengestellt. Wir erfassen von jedem Kind alle uns interessierenden Variablen. Neben ausführlichen Fragebögen haben wir Leistungstestverfahren, mit denen wir beispielsweise feststellen, wie gut die Kinder im Rechnen oder Lesen sind. Und schließlich haben wir computergestützte Aufgaben, mit denen wir messen können, wie schnell die Kinder reagieren oder welche Entscheidungen sie treffen.
FELBER: In den Fragebögen erfassen wir zum Beispiel die Motivation der Kinder oder auch körperliche Symptome. Die Kinder können angeben, ob Aussagen wie „Ich habe häufig Kopfschmerzen“ oder „Ich lese gerne“ auf sie zutreffen. Sie beantworten auch Fragen nach dem Essverhalten: „Wie oft hast du in der letzten Woche heimlich gegessen?“ oder dem Sozialverhalten: „Ich habe Gerüchte über jemanden verbreitet“. Eltern und Lehrer bekommen ebenfalls Fragebögen, in denen Stärken, Schwächen und Verhaltensweisen der Kinder abgefragt werden.
Nach welchen Kriterien wurden die Studienteilnehmer ausgewählt?
FELBER: Es nehmen Kinder aus etwa 100 Schulen aus Potsdam und dem Umland teil. Dabei haben wir darauf geachtet, dass die Gruppe möglichst heterogen und repräsentativ ist. Es sind sowohl Kinder aus der Stadt als auch aus eher ländlich geprägten Regionen und aus unterschiedlichen Schulformen beteiligt. Bei den Schulleistungen wurde nicht vorselektiert.
ELSNER: Es ist erwähnenswert, dass die Schulen das Projekt sehr gut angenommen haben. Die Lehrkräfte, Sekretariate und Schulleiter sind sehr engagiert. Ohne diese Unterstützung wäre eine solche Studie nicht möglich. Der Name „PIER-Studie“ hat sich inzwischen durchaus etabliert. Das ist für uns ein positives Signal, dass die Studie von Eltern und Lehrern wertgeschätzt und mit der Universität Potsdam verknüpft wird. Dazu trägt auch das freundliche und professionelle Auftreten der 40 studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräfte und der Promovenden bei, die als Testleiter in die Schulen gehen.
FELBER: Die Kinder sind auch begeistert davon, dass sie für ihre Teilnahme kleine Geschenke von uns erhalten. Die größeren Kinder bekommen Kino- oder Büchergutscheine, die kleineren auch mal Süßigkeiten oder Kleinigkeiten für die Schule.
Was geschieht nun mit den erhobenen Daten?
ELSNER: Zunächst müssen wir feststellen, ob systematische Zusammenhänge zwischen den Risikofaktoren und den Problembereichen bestehen. Wir haben ein komplexes Geflecht von verschiedenen Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Unsere zentrale Frage ist dann, wie die Verursachungskette verläuft. Was ist Henne und was ist Ei?
Also beispielsweise: Ist ein Kind wegen schlechter Schulleistungen depressiv, oder ist es schlecht in der Schule, weil es depressiv ist?
ELSNER: Ja, das ist ein passendes Beispiel. Und dann wäre die dritte Frage: Sind alle Kinder mit schlechten Schulleistungen depressiv oder muss noch etwas Drittes dazukommen, etwa Probleme bei der Selbstkontrolle? In den verschiedenen Projekten versuchen wir, solche kausalen Zusammenhänge zu identifizieren. Dazu benötigen wir den Längsschnitt – also die Datenerhebung zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Dann können wir analysieren, ob die Kinder, die heute schlechte Schulleistungen haben, später depressiv werden. Oder ob es umgekehrt ist. In der 2005 begonnenen Messreihe haben wir bereits vier Messzeitpunkte. In der 2011 neu hinzugekommenen Gruppe sind es zwei. Damit sind wir in der Lage, auch längerfristige Wirkmechanismen zu erforschen.
Gibt es aus diesen Analysen schon erste Ergebnisse?
ELSNER: Wir haben insgesamt zwölf Projekte, und in jedem Projekt gibt es bereits erste interessante Ergebnisse. Wir können zum Beispiel sagen, dass die Art der Lesemotivation die Leseleistung beeinflusst. Die Kinder, die häufig lesen, weil es ihnen Spaß macht, lesen besser als jene Kinder, die eher aus Wettbewerbsgründen lesen. Also weil sie besser sein wollen als andere Kinder.
FELBER: Es gilt also, die Freude am Lesen zu fördern.
ELSNER: Beim aggressiven Verhalten spielt es eine Rolle, wie gut man sich in andere Menschen hineinversetzen kann. Je besser Kinder die Gedanken und Gefühle anderer Personen verstehen können, desto weniger aggressives Verhalten zeigen sie. Es ist auch wichtig, wie die Kinder mit Ärger umgehen. Kinder, die bei Frusterlebnissen versuchen sich abzulenken oder die nach einer Lösung suchen, sind weniger aggressiv als Kinder, die sich auf den Ärger auslösenden Reiz fokussieren. Und für den Bereich des Essens können wir sagen: Übergewichtige Kinder haben ein schlechteres Selbstbild. Und sie nutzen Essen häufig, um ihre Emotionen zu regulieren. Solche Erkenntnisse können für Eltern und Lehrer wichtig sein.
Nutzen Sie die Ergebnisse, um bessere und effektivere Präventionsprogramme zu entwickeln und Risikogruppen schneller zu erkennen?
ELSNER: In der ersten Projektphase gehen wir in diese weiterführenden Bereiche noch nicht hinein. Unser Ziel ist es erst einmal zu erkennen, wie die Beziehungen und Wirkungen zusammenhängen und welches die wichtigsten Faktoren sind. Auf Basis dieser Befunde können später Präventionsprogramme und Interventionsmaßnahmen entwickelt werden.
Bis 2015 wird das Programm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Wie geht es danach weiter?
ELSNER: Wir arbeiten gerade an einem Fortsetzungsantrag. Wenn dieser bewilligt wird, haben wir ab Oktober 2015 noch einmal für viereinhalb Jahre die Möglichkeit, das Projekt fortzusetzen. Unsere ersten Doktoranden sind bereits in der Endphase ihrer Promotion, und wir gewinnen derzeit neue Doktoranden, um die Forschung in der PIER-Studie weiterzuführen.
Die Wissenschaftlerinnen
Prof. Dr. Birgit Elsner studierte Psychologie an der Universität Göttingen. Seit 2008 ist sie Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Potsdam.
Kontakt
Universität Potsdam
Department Psychologie
Karl-Liebknecht-Straße 24–25
14467 Potsdam
E-Mail: birgit.elsneruuni-potsdampde
Dr. Juliane Felber studierte Psychologie an der Universität Potsdam und an der University of Sussex in Brighton/UK. Seit 2011 ist sie Koordinatorin im Graduiertenkolleg 1668 „Intrapersonale Entwicklungsrisiken des Kindes- und Jugendalters in längsschnittlicher Sicht“.
Kontakt:
Universität Potsdam
Department Psychologie
Karl-Liebknecht-Straße 24–25
14467 Potsdam
E-Mail: felberuuni-potsdampde
Die PIER-Studie im Internet: http://www.uni-potsdam.de/pier-studie