Ein Mikroskop macht Dinge erkennbar, die zu klein sind, um mit bloßem Auge gesehen zu werden. In der Mikroskopie werden mittels Präparation Dinge sichtbar gemacht, die ansonsten unsichtbar sind. Diese ebenso faszinierende wie scheinbar selbstverständliche Tatsache wird in der mikroskopischen Praxis selten hinterfragt, zumindest nicht jenseits der fachinternen Reflexion über die richtige Präparation der Objekte. Betrachtet man jedoch die Mikroskopie als mediale Praxis, die unterschiedliche Prozesse und Nebenwirkungen der Sichtbarmachung vermittelt, so eröffnet sich ein neues Feld der Methodenreflexion. Mit der Erweiterung des naturwissenschaftlichen um einen medienwissenschaftlichen Blickwinkel beschäftigt sich Lina Maria Stahl in ihrer Doktorarbeit. Sie ist studierte Biologin, Film- und Medienwissenschaftlerin und seit 2011 Stipendiatin im Graduiertenkolleg „Sichtbarkeit & Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens“ an der Universität Potsdam.
Wie sehen eigentlich Schlupfwespen aus und wie unterscheiden sie sich, rein optisch, von anderen wespenähnlichen Insekten? Wer sie durch ein Mikroskop betrachtet, kann erkennen, was mit bloßem Auge kaum sichtbar ist, dass es sich nämlich bei diesen winzigen biologischen Schädlingsbekämpfern um feingliedrige Wesen mit glitzernden Flügeln und elegant länglichem Körper handelt. Je nach Art changiert ihre Köperfarbe zwischen warmem Braun-Gelb oder metallisch schimmerndem Schwarz. Bereits als Lina Maria Stahl noch stundenlang im Labor stand, um für ihre Diplomarbeit das Sexualverhalten von Schlupfwespen zu erforschen, war sie fasziniert von dem, was sie unterm Mikroskop sah: „Bei der Arbeit am Mikroskop habe ich ein ganz anderes Verhältnis zu diesen Insekten bekommen. Auf einmal wurde die Formen- und Farbvielfalt sichtbar, man erkennt, welch ausdifferenzierten Körperteile und individuellen Züge diese winzigen, eigentlich unscheinbaren Tierchen haben, wie sie einem geradezu als kleine Persönlichkeiten erscheinen“, erinnert sie sich.
Lina Maria Stahl schloss 2006 ihr Biologiestudium an der Freien Universität Berlin ab, verabschiedete sich von der naturwissenschaftlichen Forschung im Labor und machte 2010 ihren Masterabschluss in den Europäischen Medienwissenschaften der Universität Potsdam mit einer Masterarbeit zu „Konzepten und Strategien transgener Kunst“. Die Arbeit wurde mit dem Preis für die beste MA-Abschlussarbeit des Jahres 2010 ausgezeichnet. Sie untersuchte darin Werke des Künstlers Eduardo Kac, der mit der künstlerischen Anwendung gentechnischer Methoden und ihrer Inszenierung provozierte, um auf die weitreichenden Dimensionen der Gentechnologie selbst aufmerksam zu machen. In vielen neueren Kunstformen bedienen sich Künstler naturwissenschaftlicher Methoden. Umgekehrt haben in den Naturwissenschaften ästhetische, visuelle Verfahren mehr Bedeutung, als gemeinhin vermutet. Gerade diese Verschiebungen zwischen Kunst und Wissenschaft sind spannend, findet die Doktorandin. Ihr auf den ersten Blick ungewöhnlich scheinender Wechsel von den Natur- zu den Geisteswissenschaften ist daher ebenso nachvollziehbar wie konsequent. Genau genommen findet ihr Interesse für die mikroskopische Bildgebung in der Biologie im neuen Fach eine logische Fortsetzung – aus anderer Perspektive. „Das Mikroskop ist ein Medium der Sichtbarmachung“, erklärt sie. „Ich möchte aber nicht nur mit dem Mikroskop selbst arbeiten, also Methoden der naturwissenschaftlichen Forschung anwenden, ich möchte eine erweiterte Methodenreflexion betreiben: Denn die Mikroskopie als mediale Praxis ist bisher weder wissenschaftshistorisch noch medienwissenschaftlich umfassend behandelt worden.“
Was kann wie durch das Mikroskop sichtbar gemacht werden? Welches sind die methodischen Vorbedingungen, damit zum Beispiel lebende Objekte aus der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit überführt werden können? Welche Arten der Präparierung sind dazu notwendig? Welche Konsequenzen haben Prozesse der mikroskopischen Sichtbarmachung für die Objekte und für unser Verständnis von Leben, dessen Erforschung und Darstellung? Diese und weiterführende Fragen beschäftigen Lina Maria Stahl nun in ihrem Dissertationsprojekt, mit dem sie seit 2011 im Graduiertenkolleg „Sichtbarkeit & Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens“ an der Universität Potsdam eingebunden ist. Sie untersucht darin die Entwicklung mikroskopischer Praxis von ihren Ursprüngen im 17. Jahrhundert über die folgenreichen Veränderungen optischer Technologien im 19. Jahrhundert bis hin zu neuesten Technologien im 20. und 21. Jahrhundert.
Die Frage nach Prozessen des Präparierens, des Beobachtens und der Interpretation ist für die Doktorandin ebenso wichtig wie die Analyse der wissenschaftlichen Bildgenerierung in der Biologie und der daraus resultierenden medialen Formate selbst – Zeichnungen, Mikrofotografien oder datengenerierte Nanobilder. Wie eng in diesem Bereich Kunst und Wissenschaft einander überlagern und ergänzen, lässt sich bereits seit den Anfängen der Mikroskopie nachvollziehen. Die historische Entwicklung der Mikroskopie ist, so Stahl, eigentlich auch eine Geschichte der Bilder und der zunehmenden Grenzziehungen zwischen Kunst und Naturwissenschaft: Die ersten mikroskopischen Apparaturen im 16. Jahrhundert waren noch nicht im wissenschaftlichen Bereich, sondern im Handwerk, genauer in der Textilindustrie zu finden. Auch die ersten Untersuchungen biologischer Objekte im 17. Jahrhundert waren noch eher einem populärwissenschaftlichen Interesse geschuldet, zum Beispiel wenn auf Jahrmärkten durch Sonnenmikroskope vergrößerte Projektionen von Insekten präsentiert wurden oder ein gelehrtes Publikum unterhalten werden sollte. Spätestens ab dem Zeitpunkt da das wissenschaftliche Interesse an der Mikroskopie mit deren technischer Optimierung wuchs und diese als wissenschaftliche Methode ernst genommen wurde, wuchs auch die Notwendigkeit, die Untersuchungsgegenstände und -ergebnisse visuell zu fixieren, stellt Stahl fest: Ein Untersuchungsgegenstand war nichts wert, wenn er nicht festgehalten wurde. Dementsprechend waren mikroskopische Untersuchungen, bevor die Fotografie aufkam, nicht ohne die Anfertigung von Zeichnungen denkbar. „Die mikroskopische Tätigkeit musste mit der künstlerisch-technischen Tätigkeit kurzgeschlossen werden. Die Trennung von Kunst und Wissenschaft war dementsprechend noch nicht so strikt, wie es später der Fall war.“
Zwei historische Beispiele sind in diesem Zusammenhang besonders interessant. Zum einen das von Robert Hooke (1635–1703) 1665 veröffentlichte bahnbrechende Werk „Micrographia“. Über zahlreiche selbst angefertigte Zeichnungen eröffnete der englische Universalgelehrte darin unter anderem erstmals die mikroskopischen Dimensionen der Pflanzen- und Tierwelt. Die Beschreibung und Darstellung der Zellen von Pflanzen und ihrer Strukturen sind auf ihn zurückzuführen. Zum anderen die mikroskopischen Beobachtungen des niederländischen Forschers und Mikroskopbauers Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723). Unter seinen einfachen aber offensichtlich stark vergrößernden Apparaturen beobachtete er biologisches Zellmaterial wie Blut, Urin, Sperma, Zahnbelag, Fischschuppen. Er identifizierte bereits „kleine Tierchen“ im Speichel: Bakterien und Punkte im Blut: rote Blutkörperchen, ohne sie als solche zu benennen. Das Auge war mitunter dem Wissen voraus oder hat dieses erst vorangebracht. Künstlerisch war Leeuwenhoek indes weitaus weniger begabt und als Wissenschaftler auch weniger etabliert als Hooke. Mikroskopiker wie er sahen sich gezwungen, Zeichner zu beauftragen, das von ihnen Beobachtete in Bildern festzuhalten, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen und ernst genommen zu werden. Das Zeichnen ist bis heute Bestandteil des Biologiestudiums, auch wenn die mikroskopischen Ansichten häufig und mit wenig Aufwand mittels Fotokamera aufgenommen werden. „Der Akt des Zeichnens ist weiterhin sehr wichtig. Man guckt ganz anders hin. Es ist ein Unterschied, ob ich nur hingucke oder ob ich das, was ich sehe, in eine Zeichnung übertragen muss,“ sagt die ehemalige Biologiestudentin. Im Fokus ihrer aktuellen medienwissenschaftlichen Forschungsarbeit stehen nun die Visualisierungen von Zellen, die seit der im 19. Jahrhundert erstmals für Pflanzen- und Tierwelt formulierten Zelltheorie eine rasante Entwicklung genommen haben. Nicht die Untersuchungen der Zelle selbst interessieren sie, sondern in erster Linie die mikroskopischen Praktiken und Prozesse ihrer Sichtbarmachung: Transparente Zellen werden gefärbt oder durch optische Verfahren indirekt beleuchtet, Zellen werden aus lebendigen Organismen gelöst und auf gesäuberte Flächen platziert. Die toxischen Färbemittel vergiften die Zellen, die Beleuchtung erhitzt sie. Solche Eingriffe lassen sich eigentlich nicht herausrechnen, betont Stahl. Das bewusst zu machen, ist zentrales Anliegen ihres Projekts. Es geht ihr um die Sensibilisierung für ein Problem, das dem Präparieren als notwendigem Bestandteil der Mikroskopie per se innewohnt: Beobachter und Forscher greifen immer in das Objekt ein, welches sie unter dem Mikroskop betrachten möchten, und verändern zum Zweck der Visualisierung damit von vornherein dessen natürlichen, lebendigen Zustand. Biologische Objekte können nicht einfach so aus ihrem Kontext gegriffen und unters Mikroskop gelegt werden. Sie sind zu groß oder zu dick, sie sind lebendig, also beweglich, sie müssen zerkleinert, verformt, gefärbt oder abgetötet werden. Paradoxerweise können Biologen als Lebensforscher also immer nur relativ unbewegliche Teile, Partikel, Bruchstücke des Lebens betrachten. So wie bei der Schlupfwespe: Unter dem Mikroskop ist sie tot und plattgedrückt zwischen zwei Glasscheiben. Das Bild des Objekts und seine jeweilige mediale Form selbst veranschaulichen, was zu seiner Sichtbarmachung unternommen werden muss.
Die Wissenschaftlerin
Lina Maria Stahl studierte 2001–2006 Physik (Vordiplom) und Biologie (Diplom) und 2006–2007 Filmwissenschaften an der Freien Universität Berlin. 2007–2010 folgte ein Studium der Europäischen Medienwissenschaft (MA) an der Universität Potsdam. 2011 wurde sie Doktorandin im Graduiertenkolleg „Sichtbarkeit und Sichtbarmachung“ an der Universität Potsdam und arbeitet seit 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaften der Universität Bayreuth.
Kontakt
E-Mail: lina-maria.stahluuni-bayreuthpde
Text: Nina Weller, Online gestellt: Agnes Bressa
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