Literarische Texte haben im Leben vieler Menschen ihren festen Platz. Aus dem Deutschunterricht der Schulen sind sie nicht wegzudenken. Doch können die Schülerinnen und Schüler die Romane, Erzählungen, Novellen kompetent erschließen? Die erste PISA-Studie im Jahr 2000, die diese Frage vertieft untersuchte, ergab mit Blick auf Deutschland einen negativen Befund. Bildungsexperten und Schulpraktiker reagierten erschrocken. Seither wurden etliche Anstrengungen unternommen, die Situation zu verbessern. Obwohl die erneut mit dem Fokus Lesekompetenz durchgeführte PISA-Studie von 2009 Fortschritte bestätigte, zeigen sich Fachleute nach wie vor unzufrieden. Noch immer fällt es Jugendlichen schwer, Texte angemessen zu verstehen. Die erneut attestierten Defizite sind Herausforderung für die fachdidaktische Forschung. In dem gerade beendeten empirischen Projekt „Lesestrategien für die Erschließung literarischer Texte“ trugen Potsdamer Wissenschaftler dem Rechnung. Das Ergebnis lässt einmal mehr aufhorchen: Die in deutschen Schulen am häufigsten verwendete Methode, literarische Texte zu „entschlüsseln“, schnitt im Vergleich mit anderen Verfahren am schlechtesten ab.
Der Potsdamer Literaturdidaktiker Prof. Dr. Martin Leubner und seine Leipziger Kollegin Prof. Dr. Anja Saupe werteten für ihre Studie über 500 Textdeutungen von Zehntklässlern aus. Diese waren an zehn Brandenburgischen Gymnasien in zwei speziellen Unterrichtsstunden auf die Tests vorbereitet und dabei mit denjenigen Lesestrategien vertraut gemacht worden, die sie nutzen sollten. Genau 45 Minuten standen zur Verfügung, um die Kurzprosa von Gabriele Wohmann, Peter Stamm, Nadja Einzmann oder Thomas Hürlimann zu lesen und die jeweiligen Strategien mit Fragen zum Text anzuwenden. Nachdem sie die Erzählungen erschlossen hatten, mussten die Probanden abschließend kurze, freie Deutungen vornehmen. „Wir wollten Schülerinnen und Schüler sehen, die nicht nur richtige Antworten unter vorgegebenen Vorschlägen finden, sondern eigene Textdeutungen formulieren, produktive Leistungen erbringen können.“
Den Wissenschaftlern ging es dabei weniger darum, konkrete Leistungen abzuprüfen. „Wir stellten uns vielmehr die Frage, welche ‚Instrumente’ für das Lernen einen Beitrag leisten und Schüler zu erfolgreichen Lesern machen“, erklärt Martin Leubner das Anliegen. Das Projekt verband also kurzerhand die Aspekte Leistung und Lernen, – und unterschied sich damit in seiner Zielrichtung von Beginn an von den gängigen Studien, die in der Regel ausschließlich Leistungen erfassen.
Das Forschungsergebnis hat selbst die Initiatoren des Vorhabens überrascht: Üblicherweise finden an den Schulen drei Modelle der Erschließung von Handlungen Anwendung. Die bislang am häufigsten genutzte Methode bringt laut Untersuchung den geringsten Erfolg. Dabei analysieren Schüler die Handlung erzählender Texte, indem sie die einzelnen Handlungsschritte und die Höhe- und Wendepunkte bestimmen. 33 Prozent der Schüler, die sich den Text über die „Höhepunktmethode“ erschlossen haben, erkannten aber keine zentralen Textelemente. „Das haben wir nicht erwartet“, so Martin Leubner. „Viel besser funktioniert die Komplikationsstrategie. Die mit ihr erbrachten Leistungen haben uns überzeugt.“ Nur 18 Prozent der Gymnasialschüler erkannten demnach mit ihr keines der zentralen Textelemente, die wesentlich für das Textverständnis sind. Bei der dritten Lesestrategie – dem Textnahen Lesen – lag die Quote schon bei 27 Prozent. „Unter 20 Prozent ist für uns Didaktiker ein akzeptabler Wert, zumal wenn es sich um den ersten Versuch der Schüler mit einer Methode der Texterschließung handelt“, schätzt der Literaturdidaktiker ein. „Aber eine Methode, bei der ein Drittel der Lesenden keine beziehungsweise nur schwache Leistungen erbringt, können wir den Lehrern schlecht empfehlen.“
Die Komplikationsmethode scheint also die bessere Wahl zu sein. Die ihr zugrunde liegende Theorie ist ursprünglich für die Märchenforschung entwickelt worden. Die Helden in „Rotkäppchen“, „Rapunzel“ oder „Schneewittchen“ befinden sich in schwierigen Situationen – Komplikationen –, die sie in unterschied-lichster Weise bewältigen. Dass es einen solchen (Komplikations-)Auf- und -abbau auch in Alltagserzählungen gibt, entdeckten Erzähltheoretiker beziehungsweise Sprachwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei befindet sich die entsprechende Struktur häufig nicht an der Oberfläche. In der Wissenschaft wird deshalb von „Tiefenstruktur“ gesprochen. Leser müssen also nicht nur die Oberfläche der Handlung überblicken, sie müssen aus Elementen der „Textoberfläche“ schlussfolgern können, um diese „Tiefenstruktur“ zu erkennen.
„Weil das nicht immer so einfach ist, hat sich das Modell mit den Handlungsschritten sowie den Höhe- und Wendepunkten in der Schule etabliert“, so Leubner. „Da existieren zwar Probleme, die genutzten Begriffe zu definieren, aber man kommt in der schulischen Praxis halbwegs zurecht. Wir sehen jetzt aber, dass es besser geht als mit diesem Modell, auch wenn die bei uns ‚siegreiche’ Variante tatsächlich die schwierigere ist.“
Die Auswertung der Schülerdeutungen basiert auf einem Modell, das sprachwissenschaftliche Kriterien nutzt, um Texte zu beschreiben. Es ermöglicht, zentrale „Bausteine“ von Texten zu identifizieren. Und es erlaubt auch, die Leistungen bei Textdeutungen zu quantifizieren, indem es die Anzahl der in die Deutungen aufgenommenen zentralen Textelemente ermittelt. Die erhaltenen Zahlen wurden im Projekt zusätzlich statistisch ausgewertet. Dies übernahm Henning Läuter, bis zu seiner Pensionierung Inhaber des Lehrstuhls für mathematische Statistik an der Universität Potsdam. Er prüfte die Werte auf Signifikanz und verhalf den Literaturdidaktikern damit zu belastbaren Aussagen. Diejenigen Jugendlichen, die die Erzählungen mit der Komplikationsstrategie „aufknackten“, hatten sie wie schon erwähnt am besten verstanden. Ihre Leistungen unterschieden sich signifikant von denen jener Schüler, die die sogenannten Höhepunkt- oder Textnahes Lesen-Strategien nutzten. Die Werte der beiden letzten Gruppen wichen weniger deutlich voneinander ab; allerdings weist eine Skalierung der Ergebnisse den Textnahes Lesen-Strategien eine mittlere Position zwischen den Komplikations- und den Höhepunkt-Strategien zu. „Wir waren nicht nur überrascht, dass die Höhepunkt-Strategie so schlecht abgeschnitten hatte. Uns haben auch die Schwierigkeiten vieler Schüler, Gedanken zu strukturieren und zu verschriftlichen, erstaunt“, resümiert Martin Leubner. Auch das Erkennen von einfachen Textzusammenhängen habe Probleme bereitet. Woher ein solches oberflächliches Lesen kommt, darüber will der Wissenschaftler nicht vorschnell urteilen. Die Studie ging dieser Fragestellung nicht nach und über die Rolle der neuen Medien ließe sich hier nur spekulieren.
Die Untersuchung der Fachdidaktiker zeigt hingegen sicher: Die verwendeten Lesestrategien beeinflussen das Textverständnis der Schüler. Trotzdem empfiehlt der Uni-Professor, im Deutschunterricht weiter verschiedene Texterschließungsvarianten einzusetzen. Strategien mit und ohne Analysekategorien – also Komplikations- und auch Textnahes Lesen-Strategien – würden je nach literarischem Genre und Schwierigkeitsgrad der Texte helfen, den Zugang zu literarischen Werken zu verbessern. Allerdings sieht Leubner hier auch die Lehrerbildner in der Pflicht. Bereits die Lehramts-Studierenden müssten noch gründlicher dabei unterstützt werden, Fähigkeiten zur Texterschließung zu erwerben. „Es reicht nicht, Texte irgendwie zu verstehen, die Studierenden müssen auch die fachspezifischen Instrumente beherrschen.“ Nur so gelangt das Wissen schließlich an die Schüler.
Die Publikation zur Studie erscheint in Kürze. Auch darauf aufbauende Lehrmaterialien sind geplant. Martin Leubner selbst ist mit der Untersuchung – einer der größten deutschdidaktischen überhaupt nach den PISA-Tests – zu seinen wissenschaftlichen Wurzeln zurückgekehrt. In seiner Habilitationsschrift hatte er sich mit dem Potenzial der Neuen Medien im Bereich des literarischen Erzählens auseinandergesetzt. „Ich habe dann aber gemerkt, dass das für die Schulen ein Randphänomen bleiben wird“, erinnert sich der Uni-Forscher. „Wir Didaktiker müssen jedoch die Studierenden für die zentralen Felder von Unterricht befähigen.“ Deshalb habe er den Bogen von Aktuellem, „Modischem“, wie er es nennt, zu Traditionellem geschlagen. Nun hat der Wissenschaftler Nägel mit Köpfen gemacht. Die Studie bietet dort Unterstützung, wo Lehrer und Schüler täglich arbeiten.
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Martin Leubner studierte von 1982 bis 1989 Deutsch und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien an der Georg-August-Universität Göttingen und an der Universität Konstanz. Seit 2008 hat er die Professur für Didaktik der deutschen Literatur an der Universität Potsdam inne.
Kontakt
Universität Potsdam
Institut für Germanistik
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
leubneruuni-potsdampde
Das Projekt
Lesestrategien für die Erschließung von literarischen Texten. Eine empirische Untersuchung an Gymnasien in Brandenburg
Leitung: Prof. Dr. Martin Leubner
Laufzeit: 2011–2014
Finanzierung: lehrstuhleigene Mittel
Text: Petra Görlich, Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Onlineredaktion: onlineredaktion@uni-potsdam.de