Wo Demokratie drauf steht, ist ein Parlament nicht weit. In den meisten demokratisch organisierten Ländern der Welt trägt die vom Volk gewählte Vertretung wesentlich dazu bei, eine Regierung zu bilden, staatstragende Entscheidungen zu treffen und neue Gesetze zu schaffen. Dabei soll sie vor allem eines sicherstellen: dass jene Politik gemacht wird, mit der sich eine Mehrheit der Bürger einverstanden erklärt – und mit der auch Minderheiten zumindest leben können. Doch wie politische Mehrheiten für die Wünsche der bürgerlichen Mehrheit entstehen beziehungsweise geschaffen werden und wie sie sich auswirken, ist von Land zu Land höchst unterschiedlich. Der Potsdamer Politikwissenschaftler Prof. Dr. Steffen Ganghof untersucht mit seinem Team das Phänomen der demokratischen Mehrheitsbildung rund um die Welt – von Dänemark bis Australien – und im Wandel der Zeit.
„Das Grundproblem demokratischer Politik ist: Wir wollen alle Unterschiedliches, müssen uns aber koordinieren, um zu einer Entscheidung zu kommen“, sagt Ganghof. „Mehrheitsbildung ist daher eine Art Koordinationsspiel, in dem wir ausgehend von widersprüchlichen Meinungen zu einem fertigen Gesetz kommen.“ Und das laufe überall auf der Welt anders ab – und zwar abhängig von den strukturellen Voraussetzungen. Die Verfassung spielt dabei ebenso eine Rolle wie die historisch gewachsenen Eigenheiten des jeweiligen Landes. In seinem Projekt zur „Analyse der ‚Koordinationsregime‘ in parlamentarischen Demokratien“ hat sich der Politikwissenschaftler vorgenommen, diese Unterschiede aus einer neuen Perspektive zu dokumentieren und zu vergleichen.
„Bislang hat die vergleichende Forschung Demokratien vor allem danach unterschieden, wie groß die Mehrheiten sind, die man in ihnen braucht, um Politik zu machen, etwa ein Gesetz zu verabschieden“, so Ganghof. So ist es klassischerweise in Großbritannien möglich, mit knappen Mehrheiten viel zu erreichen. In der Schweiz hingegen, das meist als Paradebeispiel der Konsensdemokratie gilt, sind große Mehrheiten für Gesetzesänderungen nötig. Die Realität sei indes viel komplexer, als diese Differenzierung nahelege. Für das Wesen jenes Prozesses, in dem politische Entscheidungen entstehen – das „Koordinationsspiel“ –, ist nicht nur relevant, wie groß die Mehrheiten dafür sein müssen, sondern auch wann sie gefunden oder hergestellt werden. „Wir haben vier Modelle dafür ausgemacht, wie oder besser wann Mehrheiten geschaffen werden“, sagt Ganghof, „bei der Bildung von (1) Parteien, (2) Wahlbündnissen, (3) Regierungen und (4) Gesetzgebungskoalitionen.“
Ein Zwei-Parteien-System, wie es lange in Großbritannien bestand, ist typisch für das eine Extrem dieser Skala. Bürger entscheiden sich bei einer Wahl für eine der beiden Parteien – und damit zugleich für ein Wahlprogramm, das bei einem Wahlsieg zur Regierungsgrundlage wird. Am anderen Ende der Skala findet sich das Modell flexibler Gesetzgebungskoalitionen, wie sie im Fall von Minderheitsregierungen entstehen. In Dänemark beispielsweise funktioniert dieses System schon länger. Ohne eigene Mehrheit im Parlament, die etwa für die Verabschiedung von Gesetzten nötig wäre, ist die Regierung darauf angewiesen, für einzelne Entscheidungen unter den anderen politischen Akteuren Verbündete für eine Mehrheit zu finden. Dazwischen rangierten jene Fälle, in denen Parteien bereits im Vorfeld von Wahlen Allianzen bilden, um eine Stimmenmehrheit zu erhalten, oder dies anschließend in Form einer Regierungsbildung tun – wie es in Deutschland schon länger der Fall ist. „In Deutschland wird ja üblicherweise einmal alle vier Jahre eine Mehrheit ausgehandelt: bei den Koalitionsverhandlungen. Der fertige Koalitionsvertrag bildet dann – mit all seinen Kompromissen – die Richtlinie für das politische Handeln“, so Ganghof.
Die Akteure des Koordinationsspiels befänden sich dabei stets in einem Zielkonflikt zwischen Stabilität und Flexibilität: Die Koordination zu einem früheren Zeitpunkt des politischen Prozesses garantiert stabile Mehrheiten während der Legislaturperiode, erschwert jedoch eine an Sachfragen angepasste flexible Mehrheitsbildung im Parlament. Das umstrittene Betreuungsgeld zum Beispiel hätte wohl ohne Koalitionsdisziplin keine Mehrheit im Bundestag gefunden. Es gebe zwar durchaus demokratietheoretische Argumente dafür, dass die flexible Mehrheitsbildung bei Minderheitsregierungen vorteilhaft ist. Andererseits sind Minderheitsregierungen häufig instabiler. „Unser Ziel ist nicht unbedingt zu bewerten, welche Form die beste ist“, so der Wissenschaftler. „Wir versuchen vor allem zu erklären, warum sich welcher Typ wo und in welcher Ausprägung entwickelt.“
Dafür untersucht das Team um Ganghof innerhalb des Projektes nun 22 etablierte Demokratien weltweit. Dabei vergleichen sie diese strukturell – etwa auf der Basis ihrer Verfassungen –, aber auch mit Blick auf ihre Entwicklung, zum Teil seit 1945: Gerade der Wandel der Institutionen zeige, dass jedes Land historisch bedingte Eigenheiten auspräge. „Denn letztlich sind die Modelle, die in den Ländern bestehen, eng mit der dortigen politischen Kultur verbunden“, sagt Ganghof. „Dadurch funktionieren die Modelle in den Ländern höchst unterschiedlich. So kann es passieren, dass zwei Länder mit der gleichen Verfassungsstruktur überaus verschiedene politische Realitäten hinsichtlich ihrer Mehrheitsbildung entwickeln.“
Ein gutes Beispiel dafür, dass Verfassungen, die auf dem Reißbrett entstehen, in einer darauf nicht vorbereiteten politischen Kultur scheitern könnten, sei das der Weimarer Republik. Sie wurde ohne hinreichendes Verständnis davon entwickelt, was eine Verfassung mit den Akteuren macht: Arbeiten sie miteinander – oder gegeneinander?“, so Ganghof. „Denn die politischen Akteure haben stets den Anreiz, die Macht, die die Verfassung ihnen einräumt, zu nutzen.
Fünf Länder – Australien, Dänemark, Deutschland, Finnland und die Schweiz – nehmen die Forscher in umfassenderen Einzelstudien genauer unter die Lupe. Gerade bei ihnen verspricht der Blick darauf, wie der Zielkonflikt zwischen Stabilität und Flexibilität bei der Mehrheitsfindung ganz konkret gelöst wird, spannende Erkenntnisse. In einigen dieser Länder hat das flexible Aushandeln von Mehrheiten Tradition. Auch in der Schweiz, bei der die Konsensorientierung Ganghof zufolge häufig zu stark betont wird. Das Projekt will – nebenbei – die mehrheitsdemokratischen Elemente in der Schweiz deutlicher herausarbeiten.
Deutschland hingegen betrete auf Landes- wie Bundesebene Neuland, wenn es um Minderheitsregierungen geht, und sei gerade deshalb interessant. „In Deutschland hatten wir sehr lange zwei sehr stabile Blöcke, die eine Mehrheitsfindung bei der Regierungsbildung ermöglichte“, erklärt Ganghof. „Mit der derzeitigen Veränderung der Parteienlandschaft funktioniert das nicht mehr so gut. Die Folge ist teilweise ein Versagen der Koordination.“ So hätten bei der letzten Bundestagswahl fast 16 Prozent der Wähler für Parteien gestimmt, die aufgrund der Fünfprozentklausel nicht in den Bundestag eingezogen seien. Langfristig könne auch das Modell einer Minderheitsregierung attraktiver werden. Erste Versuche auf Länderebene hätten gezeigt: Minderheitsregierungen können die Interessen einer Mehrheit der Wähler durchaus erfolgreich vertreten. Das Grundgesetz sei jedoch auf diese Regierungsform nicht ausgerichtet, sagt Ganghof.
Eine Einzeluntersuchung zur rot-grünen Minderheitsregierung, die von 2010 bis 2012 in Nordrhein-Westfalen amtierte, zeigte zwar, dass die Oppositionsparteien in vielen Einzelfragen zur flexiblen Mehrheitsbildung – also zur Zustimmung bei der Verabschiedung von Gesetzen – bereit waren, wenn es mit ihren jeweiligen eigenen Interessen vereinbar war. Dennoch scheiterte das Experiment letztlich vorzeitig. „In einer parlamentarischen Demokratie sind Minderheitsregierungen problematisch“, erklärt Ganghof. „Für die Oppositionsparteien ist es nur spannend, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, so lange es nicht besser ist, sie aus dem Amt zu jagen. Gerade in Krisen ist es sehr attraktiv, die Regierung zu stürzen – das ist anstrengend und risikoreich.“
In der vergleichenden Zusammenschau der Gesamt- und Detailstudien zu den einzelnen Ländern hoffen die Wissenschaftler besser zu verstehen, „wie dieses System korrespondierender Röhren funktioniert, wie Koordinationsprobleme und institutionelle Lösungen zusammenhängen“, so Ganghof. „Ein ideales Modell gibt es zwar nicht. Aber es ist schon unser Anspruch, Wissen über die Entstehung, Entwicklung und das Wirken von Verfassungen zusammenzutragen, damit darauf in zukünftigen Verfassungsreformprozessen, zum Beispiel auch in der Europäischen Union, zurückgegriffen werden kann.
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Steffen Ganghof studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen, der Freien Universität Berlin und der Stanford University (Kalifornien, USA). Nach langjähriger Tätigkeit am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und als Juniorprofessor an der Universität Mannheim ist er seit 2007 Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Potsdam.
Kontakt
Universität Potsdam
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
August-Bebel-Straße 89, 14482 Potsdam
sekretariat-vergleichuuni-potsdampde
Das Projekt
„Analyse der ‚Koordinationsregime‘ in parlamentarischen Demokratien als Antwort auf den Zielkonflikt zwischen intertemporaler Flexibilität und Stabilität der demokratischen Mehrheitsbildung“
Beteiligt: Prof. Dr. Steffen Ganghof (Antragsteller), Dr. Sebastian Eppner
Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Laufzeit: 2012–2016
Text: Matthias Zimmermann, Online gestellt: Agnes Bressa