Eine angeschlagene Tasse, der Goldrand verblichen. Ein in die Jahre
gekommener Teddy, ein vergilbtes, schon fadenscheiniges Tischtuch. Ein Gedicht, ein Brief, eine historische Goethe-Ausgabe – das sind die Dinge, die Elke-Vera Kotowski in ihrem wissenschaftlichen Alltag begleiten. Das sind auch die Dinge, deren Weg die Potsdamer Historikerin oft über Tausende Kilometer, über Länder-und Kontinentalgrenzen hinweg verfolgt. Im Jahr 2000 promovierte Elke-Vera Kotowski an der Universität Potsdam. Seither liegt ihr Fokus auf der europäisch-jüdischen Geschichte und Kulturgeschichte. Nach der Promotion hat sie ihre wissenschaftliche Heimat am Moses Mendelssohn Zentrum gefunden. Hier hat sie sich einer oftmals fast detektivischen Spurensuche verschrieben.
Es sind die Geschichten deutsch-jüdischer Auswanderer, die in Amerika, Asien, Afrika, Ozeanien oder auch in Europa eine neue Heimat gefunden haben, denen sie hartnäckig nachgeht. Vor gut zwei Jahren lief das Projekt „German-Jewish Cultural Heritage“ an. Entdecken, Sammeln, Überliefern – auf diesen Dreiklang ließe sich das Ziel des Projektes reduzieren. Gefördert wurde es durch den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Seit 2011 spüren Wissenschaftler und Studierende im Rahmen dieses Forschungsprojektes den Lebenswegen deutsch- jüdischer Auswanderer nach. Unterstützung fanden die Potsdamer Wissenschaftler dabei im diplomatischen Dienst. Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes baten ihre Kollegen in 60 Botschaften um Hilfe für die Potsdamer Forscher. Von besonderem Interesse waren dabei Länder, die eine lange Einwanderungsgeschichte haben und zu den bevorzugten Transit- und Exilländern deutscher Juden gehörten.
Die Resonanz fiel sehr unterschiedlich aus. Zahlreich waren die Erfolge in Argentinien. Hier zeigte sich schnell, dass sich vor allem in Buenos Aires Menschen unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster Herkunft intensiv mit dem Thema beschäftigen. Schon die Mitarbeiter der Botschaft waren in einer Vielzahl von Projekten zu deutsch-jüdischen Themen engagiert. Deshalb lag es quasi auf der Hand, dass die Auftaktveranstaltung für das German Jewish Cultural Heritage-Programm im März 2012 in der argentinischen Hauptstadt stattfand. Noch gut ein Jahr danach erinnert sich Elke-Vera Kotowski sehr genau: „Das war schon eine ganz besondere Stimmung. Niemand von uns wusste, wie wir aufgenommen werden. Wir haben viel darüber spekuliert, wie viele Menschen sich für unser Anliegen interessieren würden, mit welchen Gefühlen man uns begegnen würde. Wir waren uns eigentlich einig: Wenn zwanzig, vielleicht dreißig Leute an diesem Abend den Weg in die deutsche Botschaft finden, dann wäre das ein Riesenerfolg.“ Tatsächlich waren es fast 100 Gäste, die der Einladung zur Informationsveranstaltung des Wissenschaftlerteams folgten. „Im Verlauf des Abends stand ein alter Herr auf und erklärte auf Spanisch, dass er sich einst das Versprechen gegeben habe, niemals wieder deutschen Boden zu betreten. Dieses Versprechen habe er nun gebrochen, indem er der Einladung in die deutsche Botschaft gefolgt sei. Und er habe sich auch geschworen, niemals wieder Deutsch zu sprechen. Und dann wechselte er mit Tränen in den Augen in seine Muttersprache. Das war wirklich berührend.“ Besondere Momente wie diesen sollte es noch viele geben. Die Resonanz auf das Anliegen der Potsdamer Wissenschaftler war groß, geradezu überwältigend.
Wichtige Zeitzeugnisse jüdischer Kultur drohen überall auf der Welt endgültig verloren zu gehen. So gibt es in Buenos Aires eine jüdische Hilfsorganisation, die in den 1930erJahren dafür sorgte, dass die Emigranten bei ihrer Ankunft zunächst ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit bekamen. In den Archiven dieser Organisation lagern Karteikästen, auf denen die Namen, Adressen, das Alter, die Herkunftsorte aller Flüchtlinge notiert sind. Für jeden Historiker ein wahrer Schatz. Mit dem anstehenden Umzug in ein neues, kleineres Büro stellte sich die Frage: Wohin mit den Karteikästen? Auf den Müll? „Als wir gefragt wurden, ob diese Karteikarten erhaltenswürdig seien, haben wir natürlich dafür plädiert, die Sachen sicher aufzubewahren. Das ist authentische Geschichte, in der sich Geschichten widerspiegeln, die bewahrt werden müssen“, sagt die Projektleiterin. Bereitwillig erzählten immer mehr deutsch-jüdische Auswanderer und zum Teil auch schon deren Nachfahren den Potsdamer Wissenschaftlern ihre Lebensgeschichten. „Auf meinen Reisen habe ich immer wieder den Eindruck gehabt, dass wir mit unseren Fragen und unserer Suche genau zur richtigen Zeit kommen.“ Elke-Vera Kotowski vernäht die Lebensberichte zu einer historischen „Patchwork-Decke“, die eine bislang wenig beachtete und erforschte Seite deutsch-jüdischer Geschichte beschreibt – die ganz persönlichen Konsequenzen, die Weltgeschichte auf die Lebenswege der Emigranten, ihrer Partner, Kinder, letztendlich auch der nachfolgenden Generationen hat. Gerade die Angehörigen der dritten, vierten Generation – so die Historikerin – seien oft auf der Suche nach der eigenen Identität: Wo liegen meine Wurzeln? Durch welche Kultur wurde ich geprägt? Welche Traditionen pflegt meine Familie?
Die Wissenschaftler versuchen zu ergründen, inwieweit die deutsch-jüdischen Auswanderer in der neuen Heimat an ihrer jüdischen Kultur festgehalten haben, wovon abhängig war, ob die Emigranten ihre Werte und Erfahrungen in die Kultur der neuen Heimat einbrachten. Für Elke-Vera Kotowski war in diesem Zusammenhang etwa ein transatlantischer Briefwechsel der deutsch-jüdischen Familie Guttmann sehr erhellend. Es handelte sich dabei um den Austausch von Nachrichten zwischen in Österreich lebenden Familienmitgliedern und dem bereits emigrierten Bruder beziehungsweise Sohn. Eine Kollegin aus den USA hatte die Briefe vor ein paar Jahren übergeben bekommen. Er war auf einem Dachboden gefunden worden. Der Fund wurde in einem gemeinsamen Seminar an der Uni Potsdam mit den Studierenden analysiert. Eine Kiste mit Briefen, der wöchentliche Austausch von Neuigkeiten in den Jahren zwischen 1926 und 1956. Spannend für die Historiker ist, ob und wie sich die geschichtlichen Ereignisse in diesem familiären Briefwechsel widerspiegeln. Was haben europäische Juden in diesen Jahren gedacht? Was hat sie beschäftigt und geängstigt? Haben die antijüdischen Ausschreitungen 1933 in Deutschland eine Rolle gespielt, der Anschluss Österreichs 1938? Jeden Sonnabend ging ein Brief über den Atlantik. Geradezu klarsichtig zeigt sich die Analyse des nach New York Ausgewanderten. Während Mutter und Bruder die Realitäten des Alltags – Verfolgung und Diskriminierung – verdrängen, warnt der Emigrierte vor den sich abzeichnenden Entwicklungen. Irgendwann flüchteten auch die Wiener Verwandten in die Vereinigten Staaten. Und nun geben die historischen Briefe Auskunft darüber, wie schnell die Integration der Einwanderer in die Multi-Kulti-Gesellschaft Amerikas vonstatten. Innerhalb kurzer Zeit erfolgte der (schriftliche) Austausch von Neuigkeiten auf Englisch. Nicht selten finden sich in Korrespondenzen zwischen Familienmitgliedern in der Alten und der Neuen Welt Zeilen wie: „Wir sind schon richtige Amerikaner geworden.“ In anderen Exilländern gelang die Integration bei Weitem nicht so schnell und komplikationslos. Vielleicht wurden deshalb dort die Erinnerungen an die verlorene Heimat und die Verbundenheit auch so viel besser konserviert.
Unverändert spannend für die Historiker sind die gegenseitige Beeinflussung der Kulturen und die vielfältigen Möglichkeiten, wie verschiedene kulturelle Traditionen zu einer neuen gemeinsamen Identität verschmelzen können. Elke-Vera Kotowski erklärt: „In diesem Zusammenhang diskutieren wir immer wieder, was sich unter der Begrifflichkeit ‚Kulturgut‘ eigentlich alles fassen lässt. Ist ein Gedicht ein Kulturgut? Ja. Auch eine Kuckucksuhr, ein Sammelbild und das Rilke-Insel-Bändchen.“ Dabei liegt das Augenmerk der Potsdamer Wissenschaftler nicht nur auf den Emigranten, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Deutschland verlassen mussten. Vielmehr stehen auch die Auswanderer des 19. Jahrhunderts im Fokus. Im Vergleich dieser beiden Gruppen interessiert vor allem die Frage, ob es einen erkennbaren Unterschied am Festhalten der Ursprungsidentität zwischen den früher Ausgewanderten und den von den Nazis Vertriebenen gibt.
Eine Datenbank soll die Grundlage für eine langfristige, vernetzte Zusammenarbeit und einen Austausch auf internationaler Ebene schaffen. Auf dieser Basis, so der Ansatz der Potsdamer Historiker, wird das Gesammelte irgendwann weltweit zugänglich sein. Nur so lässt es sich für die verschiedensten – oft noch gar nicht absehbaren – Forschungskontexte nutzen, die sich mit den theoretischen Grundlagen der Ursachen- und Wirkungsgeschichte der deutschen Kultur und den Einflüssen Kulturschaffender jüdischer Provenienz auseinandersetzen. Es geht darum, Institutionen, Vereine, Gemeinden, Forschungszentren und Museen in aller Welt unter einen Hut zu bringen. Alle, die sich mit der Bewahrung des deutsch-jüdischen Kulturerbes befassen, werden so systematisch vernetzt und zu einer langfristigen Zusammenarbeit eingeladen. Eine Investition in die Zukunft, findet Elke-Vera Kotowski: „Ich glaube, das ist eine wirkungsvolle Prophylaxe gegen das drohende kulturelle Vergessen, welches letztendlich den Verlust an Identität bedeuten würde. Wir interessieren uns für neue Formen des Bewahrens und dafür, wie uns die modernen Kommunikationsmöglichkeiten dabei helfen, Quellen zu sichern. Dabei können das Internet und moderne Datenbanken überaus nützlich sein. Klar ist das eine teure Angelegenheit. Aber wenn uns das nicht gelingt, dann wird in 50, 100 oder 500 Jahren der Holocaust nur noch eine Fußnote der Geschichte sein.“
Das Projekt „German Jewish Heritage“ ist keine in die Vergangenheit gerichtete Einbahnstraße. Es geht neben der Spurensuche und dem Blick in die Vergangenheit um kritische Ansätze und Fragestellungen zur Existenz einer lebendigen deutsch-jüdischen Kultur in der Bundesrepublik. Darum, ob sich in Deutschland eine fast erloschene Kultur und Lebensart neu etabliert und sich hier etwas entwickelt, für dessen Selbstbewusstsein auch die Geschichten der Exilanten eine wichtige Grundlage sein können. Das sind Fragen, die sich nicht nur den jüdischen Gemeinden stellen, sondern vielmehr auch durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu beantworten sind, die in der Pflicht steht, sich mit den Einflüssen und Wirkungen der deutsch-jüdischen Geschichte und Entwicklung als integralem Bestandteil der deutschen Gesamtgeschichte auseinanderzusetzen.
Die Wissenschaftlerin
Dr. Elke-Vera Kotowski studierte Politikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Kulturwissenschaft in Duisburg und Berlin. Seit 2000 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäischjüdische Studien e.V.
Kontakt
Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische
Studien e.V.
Am Neuen Markt 8, 14467 Potsdam
kotowskiuuni-potsdampde
Das Projekt
Das Projekt „German Jewish Heritage“ widmet sich dem Erkennen, Erfassen und Bewahren von deutsch-jüdischem Kulturerbe. Zentral ist die Idee einer Spurensuche der Wege deutscher Juden infolge der Emigration. Der Begriff des
Kulturerbes umfasst dabei das materielle wie geistige Erbe, welches die deutsch-sprachigen Juden in das neue Heimatland mitbrachten. Dies schließt sowohl das 19. Jahrhundert mit ein, als auch die Zäsur von 1933. Eine Internetplattform und eine im Aufbau befindliche Datenbank sollen langfristig die Zusammenarbeit aller relevanten Einrichtungen befördern und den Austausch auf transnationaler Ebene sichern. Das Projekt soll dazu anregen, möglichst viele Zeugnisse deutsch-jüdischen Kulturlebens öffentlich zugänglich zu machen. Dadurch soll der Zugriff auf die historisch so wertvollen Primärquellen weltweit ermöglicht werden. Die langfristige Sicherung des Zugangs zu den Quellen für die nachkommenden Generationen wird von den Wissenschaftlern ebenso angestrebt wie ein nachhaltiger Umgang mit dem erworbenen Wissen.
Text: Birgit Mangelsdorf, Online gestellt: Agnes Bressa