Beginnen wir mit einem Experiment. Lesen Sie den folgenden Satz: „Der Kater frisst die Maus.“ Problemlos verstehen Sie den Inhalt, ohne sich bewusst zu sein, nach welchen Prinzipien unser Gehirn die verschiedenen Wörter zu einem Satz zusammenfügt. „Der Kater, den der Hund jagt, frisst die Maus.“ Auch das zu verstehen, bereitet Ihnen vermutlich keinerlei Schwierigkeiten. Aber wie ergeht es Ihnen mit den folgenden Beispielen? „Der Kater, den der Hund, den das Herrchen ruft, jagt, frisst die Maus.“ Und weiter: „Der Kater, den der Hund, den das Herrchen, das der Frau winkt, ruft, jagt, frisst die Maus.“
Spätestens bei dem letzten Satz haben die meisten Menschen Schwierigkeiten zu verstehen, wer hier was tut. Er ist grammatikalisch korrekt, aber es gelingt unserem Gehirn nicht auf Anhieb, für jedes Verb das entsprechende Subjekt zu finden. Man könnte nun meinen, die Verständnisschwierigkeiten lägen lediglich in der Länge des Satzes begründet. Dass dies jedoch keine hinreichende Erklärung ist, wird offensichtlich, wenn wir im letzten Satz einfach die Wörter ein wenig umstellen: „Das Herrchen, das der Frau winkt, ruft den Hund, den der Kater jagt, der die Maus frisst.“ Und plötzlich ist alles klar.
Eine Theorie der menschlichen Sprachverarbeitung müsste dieses und viele weitere Phänomene erklären können. Daran arbeiten der Psycholinguist Shravan Vasishth und seine Gruppe. In Experimenten versuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Mechanismen zu verstehen, mit denen unser Gehirn sich Bedeutung aus Wörtern und Sätzen erschließt. In Computermodellen simulieren sie diese Vorgänge und testen dann wiederum an Versuchspersonen, ob diese so reagieren, wie der Rechner es nach der Theorie vorhergesagt hat.
Dabei beschränken sich die Forscher nicht nur auf das Deutsche, sondern untersuchen vergleichbare Phänomene in vielerlei Sprachen. Als Vorteil erweist sich dabei die Nähe Potsdams zur Multi-Kulti-Stadt Berlin. Dort fand Vasishths Mitarbeiter Titus von der Malsburg Spanisch sprechende Probanden und Rukshin Shaher konnte mit englischen Muttersprachlern arbeiten.
Günstig ist auch, dass in der Forschungsgruppe geradezu babylonisch anmutende Verhältnisse herrschen: Die Promovierenden und Postdoktoranden hat es nicht nur aus verschiedenen Weltgegenden nach Potsdam gezogen, sie beherrschen auch ihrerseits eine Fülle fremder Idiome. Dadurch fällt es ihnen leicht, ihre Daten im Sprachgebiet zu erheben, in Kooperation mit Universitätsinstituten rund um den Globus. So konnte Pavel Logačev mit Hindi sprechenden Probanden im indischen Allahabad arbeiten, Lena Jäger am Mandarin-Chinesischen in Beijing und Taipeh. Andere forschen zurzeit in Großbritannien und in Argentinien.
Unmittelbar beobachten lassen sich die Vorgänge nicht, die sich in unserem Gehirn abspielen. Obendrein laufen sie mit außerordentlicher Geschwindigkeit ab. Um sie in Echtzeit zu erfassen, müssen sich die Forscher daher experimenteller Methoden mit höchster zeitlicher Auflösung bedienen. Eine davon ist das „Eyetracking“, das Verfolgen von Blickbewegungen, eine andere die Elektroenzephalografie (EEG), das Aufzeichnen der Gehirnströme. Besonders aussagekräftige Daten lassen sich mit der Kombination beider Methoden gewinnen.
Eyetracking-Experimente beruhen auf der Annahme, dass die Blickbewegungen beim Lesen die kognitiven Prozesse der Sprachverarbeitung widerspiegeln. Verweilen die Augen länger auf einem bestimmten Wort, lässt sich daraus auf die Schwierigkeit schließen, dieses Wort in die bis dahin aufgebaute Satzstruktur zu integrieren.
Beim EEG erhält der Proband eine Haube mit vielen Elektroden aufgesetzt. Diese registrieren die Gehirnströme während des Lesens. Ein klassisches Experiment geht von Satzpaaren wie diesem aus: „Peter trinkt seinen Kaffee mit Milch“ und „Peter trinkt seinen Kaffee mit Salz“. Sobald die Versuchsperson das inhaltlich unpassende Wort „Salz“ liest, stutzt sie. Vergleicht man nun die EEG-Signale der beiden Sätze, hat das Stutzen bei „Salz“ einen größeren Ausschlag hervorgerufen als bei dem inhaltlich erwartbaren Wort „Milch“.
Konstruierte Satzpaare wie dieses, die sich lediglich in einem Detail unterscheiden, sind das Material für die Experimente im Sprachverarbeitungslabor. Dabei werden die Auswirkungen dieser winzigen Manipulation gemessen. Das Ergebnis jedes Versuches steuert ein weiteres Teilchen zum großen Puzzle bei: zu der Antwort auf die große Frage, wie das menschliche Gehirn Sprache versteht.
Als weiteres wichtiges Werkzeug nutzen Shravan Vasishth und seine Gruppe ein Computermodell, das der Professor mit seinem amerikanischen Doktorvater Richard Lewis entwickelt hat. Unter dem Einfluss der Forschung zur Künstlichen Intelligenz hatte sich damals in der Linguistik der Ansatz durchgesetzt, die Mechanismen, die wir beim Verstehen von Sprache nutzen, mathematisch zu beschreiben und am Computer nachzuahmen. Mit Vasishths Modell lässt sich simulieren, wie die Sprachverarbeitung den Satzbau analysiert.
Aus experimentellen Daten legen sich die Forscher eine Theorie zurecht. Auf dieser Grundlage sagt das Modell dann zum Beispiel vorher, an welcher Stelle des Satzes „Der Kater, den der Hund, den das Herrchen …“ eine virtuelle Versuchsperson ins Stocken gerät. Solche Vorhersagen gleichen die Forscher anschließend wiederum mit Messungen bei Tests mit Menschen und mit anderen Beispielen ab. Widersprechen sich die Ergebnisse, müssen sie die Theorie revidieren. Auch an dem Modell selbst wird gefeilt. So arbeitet Doktorand Felix Engelmann daran, Theorien zur Blicksteuerung mit dem Sprachverarbeitungsmodell zu verknüpfen, um noch präzisere Vorhersagen zu erhalten.
Wozu ist das alles gut? Die typische Laienfrage entlockt jedem Grundlagenforscher einen mehr oder weniger ausgeprägten Seufzer. „Ich habe zwei Antworten darauf“, zeigt sich Shravan Vasishth gefasst. Die erste betont die praktische Seite der theoretischen Wissenschaft: In die Computermodelle lassen sich auch gezielt Störungen der Sprachverarbeitung einbauen, wie sie bei Menschen mit Hirnschädigungen auftreten, etwa durch einen Schlaganfall. Vasishths Mitarbeiter Umesh Patil simuliert solche Aphasie genannten Störungen, um die Ursache der Symptome zu finden. Hierfür verwendet er experimentelle Daten, die seine Kollegin Sandra Hanne mit Aphasie-Patienten erhebt. Forschungsprojekte dieser Art könnten dazu beitragen, Therapien für derartige Sprachstörungen zu entwickeln.
Die zweite Antwort, die für den Forscher der eigentliche Antrieb ist, lautet: „Ich kann nicht anders. Es ist der Drang, eine tiefe Wahrheit über die Natur herauszufinden.“
Vielleicht führen die mathematischen Modelle der Sprachprozessforschung eines Tages zur Entwicklung denkender Maschinen, vielleicht auch zu etwas ganz anderem. Zunächst einmal arbeiten die Psycholinguisten auf das Ziel hin, mit ihren Simulationen zu einem umfassenden Verständnis der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn beizutragen, die Denken, Lernen, Wissen ermöglicht.
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Shravan Vasishth studierte Japanologie in Neu Delhi und Osaka, Informatik und Linguistik an der Ohio State University in den USA. Seit 2004 ist er Professor an der Universität Potsdam, seit 2008 hat er hier den Lehrstuhl für Psycho- und Neurolinguistik inne. Sein Forschungsschwerpunkt ist die menschliche Satzverarbeitung.
Kontakt
Universität Potsdam
Departement für Linguistik
Karl-Liebknecht-Str. 24–25, 14476 Potsdam OT Golm
E-Mail: shravan.vasishthuuni-potsdampde