Museen und Märkte, Tiere und Tempel, malerische Landschaften und freundliche Menschen – das wollen die Meisten erleben, die genug Geld haben, um in die Ferne zu reisen. Aber Armutsviertel oder gar Müllhalden, auf denen zerlumpte Menschen nach Brauchbarem stochern? Zunehmend suchen Touristen, die in den Metropolen von Entwicklungs- und Schwellenländern unterwegs sind, auch solche wenig idyllischen Stätten auf. Fabian Frenzel und Manfred Rolfes, Professor für Regionalwissenschaften, gehen der Frage nach, inwieweit Slumtourismus zur Bekämpfung der Armut beitragen kann.
Zu den klassischen Höhepunkten einer Südafrikareise gehören etwa ein Ausflug auf den Tafelberg oder eine Safari im Krüger-Nationalpark. Von den rund zwei Millionen Touristen aus aller Welt, die jährlich Südafrika besuchen, buchen geschätzte 800.000 daneben auch eine geführte Tour durch die „Townships“, die Wellblechhüttensiedlungen am Rande von Johannesburg, Durban und Kapstadt.
„Slumtourismus“ kam zu Beginn der 1990er Jahre auf, nach dem Ende der Apartheid, als politisch interessierte Besucher sehen wollten, wie Nelson Mandela und andere Freiheitskämpfer im Township Soweto gelebt hatten. Inzwischen hat sich aus einem Nischenprodukt ein eigener Geschäftszweig der globalen Reisebranche entwickelt – der prompt in die Kritik geriet: Slumtourismus befriedige lediglich die voyeuristischen Gelüste Wohlhabender, die sich angesichts des Elends ein wenig gruseln wollten, um dann in ihr Fünf-Sterne-Hotel zurückzukehren.
Sind diese Vorwürfe berechtigt? Oder kann Slumtourismus im Gegenteil dazu beitragen, die Kluft zwischen Arm und Reich ein wenig zu schließen? Diesen Fragen geht der Politikwissenschaftler Fabian Frenzel in dem Projekt „Qualitative Indikatoren der Armutsminderung“ nach. Frenzel hat dafür ein Marie-Curie-Forschungsstipendium der Europäischen Union erhalten und sich damit am Institut für Geographie der Universität Potsdam niedergelassen, bei Prof. Dr. Manfred Rolfes, einem der wenigen Spezialisten für dieses Forschungsgebiet weltweit.
Es hat sich gezeigt, dass schon der normale Tourismus in Entwicklungsländern kaum, wie einst erhofft, die Not der Ärmsten dort zu lindern vermag: Die zusätzlichen Einkünfte bleiben meist bei denen hängen, die ohnehin Mittel zum Investieren haben. Sind die „paar Peseten“, die Touristen in südafrikanische Townships, lateinamerikanische Favelas oder indische Slums tragen, angesichts dieser Mammutaufgabe nicht höchstens ein Tropfen auf den heißen Stein?
„Wir definieren Armutsbekämpfung nicht allein danach, wie viel Geld die Touristen dalassen und wer finanziell davon profitiert“, schickt Fabian Frenzel gleich vorweg. Denn Armut ist mehr als Mangel an materiellen Gütern. Sie schließt auch gesellschaftliche Benachteiligung und begrenzte Erfahrungsfelder ein, sie erschwert den Zugang zu Landbesitz, Bildung und politischer Mitwirkung. „Uns interessiert vor allem, was der Slumtourismus in den Köpfen verändert, und zwar sowohl der Bewohner als auch der Besucher“, sagt Frenzel.
Im Gegensatz zu Geldflüssen lassen sich jedoch Veränderungen im Denken, Handeln und in den Beziehungen zwischen Besuchern und Besuchten nicht einfach zählen oder messen. In dem Forschungsprojekt entwickelt Frenzel anhand von Fallstudien und Befragungen Indikatoren, mit denen sich solche Wirkungen des Slumtourismus beschreiben lassen.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigte: Ganz neu ist das Phänomen nicht. Um 1840 herum begannen Mitglieder der besseren Londoner Gesellschaft ins East End zu pilgern, oft in Begleitung von Journalisten auf der Suche nach einer aufklärerischen Story. Auch Sozialreformer waren dabei, die den Armen aus ihrer Misere helfen wollten. Mit Sicherheit waren die Besucher aus der Oberklasse des viktorianischen Zeitalters jedoch auch von Neugier auf die Verlierer der Industrialisierung getrieben. „Schon bei diesen frühen Formen des Slumtourismus mischten sich Besucher mit altruistischen Absichten und solche, die den Blick auf die andere, die ‚dunkle‘ Seite der Gesellschaft suchten“, sagt Frenzel.
Ähnlich begann auch der neue Trend. Als in Südafrika noch das Apartheid-Regime herrschte, waren Ausflüge zu den Ghettos der Schwarzen und Farbigen eine offizielle Touristenattraktion. Gleichzeitig ließen sich Aktivisten aus aller Welt von einheimischen Bürgerrechtlern und Nichtregierungsorganisationen zeigen, welche Einschränkungen die Zuweisung von Wohngebieten nach Hautfarbe mit sich brachte. Mit dem Ende der Rassentrennung begann der Tourismus zu boomen. Und immer mehr Besucher wollten nicht nur die landschaftlichen Schönheiten genießen, sondern zugleich mehr über die Geschichte des Landes erfahren. Mittlerweile gibt es allein in Kapstadt rund 50 Anbieter, die ausländischen Besuchern für einige Stunden Einblicke in das Leben in den Townships verschaffen.
In Rio de Janeiro nutzten gewitzte Aktivisten den internationalen Auftrieb während des Welt-Umweltgipfels von 1992, um Interessierte durch Rocinha zu führen, die größte Favela der brasilianischen Stadt. Heute existieren dort etwa 20 unabhängige Reiseführer und acht kommerzielle Unternehmen, die jährlich geschätzten 50.000 Besuchern die Lebenswirklichkeit im Armenviertel nahebringen. Mittlerweile gibt es Sightseeing in den Slums fast aller Megacities der Südhemisphäre. Aufwind erhielt diese Fremdenverkehrssparte noch durch Filme wie „City of God“, der in einer Trabantenstadt von Rio spielt, oder „Slumdog Millionaire“, dessen Held den Aufstieg aus Dharavi schafft, dem größten Armenviertel der indischen Hafenmetropole Mumbai. Längst sind es nicht mehr nur die Bewohner selbst, die als „Guides“ auftreten. In Bangkok ist vor einigen Jahren von Beginn an ein großer kommerzieller Veranstalter als Anbieter eingestiegen.
Damit zählen „Undercover Tours“ oder „Reality Tours“ endgültig zum „normalen“ Programm Fernreisender. Aber was geht dabei mit diesen vor? „Unsere bisherigen Befragungen haben ergeben, dass viele ihr Bild von Armut stark korrigieren müssen“, sagt Fabian Frenzel. Beispielsweise zeigen sich die meisten Besucher von Dharavi überrascht, dass die Armen nicht untätig herumsitzen, sondern dass es einen mehr oder weniger geregelten Alltag gibt, dass Kinder zur Schule gehen und die meisten Erwachsenen irgendeinem Gewerbe nachgehen, Wäsche waschen, Fahrräder reparieren oder Gebrauchsgegenstände aus Recyclingmaterialien herstellen. Auf manchen Touren lernen die Touristen auch, dass Slum nicht gleich Slum ist: Manche Viertel haben bereits einen gewissen sozialen Aufstieg erlebt. „Den wenigsten Besuchern ist klar, dass Slums oft die erste Anlaufstelle für Landflüchtlinge sind, die in die Städte strömen, um Arbeit und Einkommen zu finden“, sagt Fabian Frenzel.
Aber auch bei den Slumbewohnern sind Veränderungen festzustellen. Zunächst bei jenen, die Führungen organisieren, sei es, dass sie selbst die Initiative ergreifen oder aber die Anregungen erfahrener Touristen oder Nichtregierungsorganisationen aufnehmen: Die Guides müssen Sprachkenntnisse erwerben, sie lernen zu verstehen, was Touristen suchen und welche Preise sie dafür zu zahlen bereit sind. „Sie gewinnen also eine gewisse Mobilität“, fasst der Wissenschaftler zusammen. Manche halten über die sozialen Medien weiterhin Kontakt zu früheren Besuchern, und wenn politische oder Entwicklungsorganisationen im Spiel sind, werden einzelne sogar ins Ausland eingeladen.
Viele Hinweise sprechen dafür, dass der große Teile der Bevölkerung die Slumtouren als Anerkennung ihrer Existenz wertet. Beispielsweise, erzählt Frenzel, habe die Internet-Navigationsmaschine von Google die Favelas von Rio de Janeiro von ihren Karten gelöscht – auf Wunsch der brasilianischen Regierung, die diese als Schandfleck empfand. Die dortige Bevölkerung jedoch hatte durch das Interesse der Ausländer ein neues Selbstbewusstsein entwickelt und setzte sich dafür ein, wieder auf die Landkarte zu kommen. Inzwischen hat die Stadt Rio dafür gesorgt, die ausufernde Drogenkriminalität einzudämmen, und organisiert sogar ihrerseits Slumtouren.
Für endgültige Antworten auf die Fragen des Forschungsprojektes ist es noch zu früh. Aber eines kann Fabian Frenzels Mentor Manfred Rolfes jetzt schon sagen: „Ich würde eine solche Tour jedem empfehlen.“
Das Projekt
Das Forschungsvorhaben „Qualitative indicators of tourism’s role in poverty alleviation“ läuft seit September 2012 und ist auf zwei Jahre angesetzt. Die Europäische Union hat dafür in ihrem 7. Forschungsrahmenprogramm ein Marie-Curie-Stipendium vergeben. Im Mai 2014 treffen sich alle Wissenschaftler, die auf diesem Gebiet arbeiten, zu einer Konferenz in Potsdam.
http://slumtourism.net/destinationslum/
Der Wissenschaftler
Dr. Fabian Frenzel studierte an der Freien Universität Berlin und in Großbritannien Sozial- und Politikwissenschaften. 2010 wurde er an der Leeds Metropolitan University promoviert. Bis 2012 lehrte er in England Tourismus. Dann wechselte er an das Institut für Geographie nach Potsdam, wo er gemeinsam mit Prof. Dr. Manfred Rolfes, seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Regionalwissenschaften/Angewandte Humangeographie, das Forschungsprojekt über die armutsmindernden Wirkungen von Slumtourismus leitet.
Kontakt
Universität Potsdam
Institut für Geographie
Karl-Liebknecht-Straße 24–25
14476 Potsdam OT Golm
Text: Sabine Sütterlin, Online gestellt: Julia Schwaibold