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Stolpersteine – Psychologen untersuchen Entwicklungsrisiken der Kindheit

Foto: GK „Intrapersonale Entwicklungsrisiken“
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Foto: GK „Intrapersonale Entwicklungsrisiken“

Lernschwierigkeiten, aggressives Verhalten, depressive Stimmungen – Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen treten häufig auf. Welche persönlichen Eigenschaften begünstigen die Entstehung solcher Störungen, welche schützen vor ihnen? Wie wirken sie genau? Wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Diesen Fragen gehen Promovierende in einem Graduiertenkolleg nach, das Psychologen der Universität Potsdam 2011 gemeinsam angestoßen haben. Die Daten dafür erheben sie in der PIER-Studie, an der inzwischen über 3.000 Kinder an Brandenburger Schulen teilgenommen haben. Nun liegen erste Ergebnisse vor.

Warum wird ein Kind magersüchtig, wenn es in die Pubertät kommt, während viele andere den Hormonsturm auf dem Weg zum Erwachsenwerden ohne größere Probleme überstehen? Warum kann ein Kind drei Jahre nach der Einschulung flüssig lesen, während ein anderes noch im Jugendalter Mühe hat, sich Textzusammenhänge zu erschließen? Diesen Fragen auf die Spur zu kommen, ist das Ziel des Graduiertenkollegs „Intrapersonale Entwicklungsrisiken des Kindes- und Jugendalters in längsschnittlicher Sicht“.

Laien erschließt sich womöglich nicht auf Anhieb, dass sich hinter dieser Überschrift ein ambitioniertes Forschungsprogramm verbirgt. Es bietet Promovierenden der Psychologie an der Universität Potsdam eine Vielfalt wissenschaftlicher Fragestellungen auf einem bislang wenig erforschten Gebiet. „Wir kennen zwar viele der Faktoren, die ein Kind in seiner Entwicklung auf Ab- oder Umwege führen können“, sagt Birgit Elsner, Sprecherin des Graduiertenkollegs, „aber wir wissen wenig darüber, wie diese Faktoren genau wirken und sich gegenseitig beeinflussen.“ Ein Graduiertenkolleg eigne sich besonders gut, um diese komplexen Wechselwirkungen zu klären, so Elsner, weil die zwölf Forschenden jeweils unterschiedliche Aspekte an ein und derselben Gruppe von Kindern betrachten: „Einzelprojekte könnten das nicht leisten.“

13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Departments Psychologie haben sich für das Projekt zusammengetan. Sie arbeiten alle auf unterschiedlichen Teilgebieten ihres Faches, einige haben sich beispielsweise auf aggressives Verhalten oder auf die Verarbeitung von Emotionen spezialisiert, andere auf die Lesemotivation oder Ess- und Gewichtsstörungen. In ihrem gemeinsamen Forschungsprojekt wollen sie mehr darüber herausfinden, warum manche Menschen auf dem steinigen Pfad des Erwachsenwerdens schwieriger vorankommen als andere.

Dabei konzentriert sich das Graduiertenkolleg auf die intrapersonalen Entwicklungsrisiken. Das heißt, nicht äußere Stolpersteine stehen im Vordergrund, nicht familiäre, soziale oder schulische Schwierigkeiten und auch nicht ererbte Neigungen, Stärken und Schwächen, sondern die individuelle Art, auf Ereignisse zu reagieren oder Informationen aufzunehmen und diese gedanklich sowie emotional zu verarbeiten. Zwar wirken bei der Entstehung von Entwicklungsstörungen äußere und innere Faktoren auf komplexe Weise zusammen. Dem Projekt liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass persönliche Merkmale wie etwa die Selbstwahrnehmung oder das Empfinden für Ungerechtigkeit, die im Kindesalter geformt werden, zwischen angeborenen Eigenschaften und Umweltfaktoren vermitteln. Bislang fehlt es an fundiertem Wissen darüber, welche dieser Merkmale Kinder anfällig für Entwicklungsstörungen machen und welche eher davor schützen. Solche Störungen treten bei Kindern und Jugendlichen recht häufig auf. Mehr darüber zu wissen, könnte die Prävention wie auch die Behandlung verbessern.

Das Graduiertenkolleg fokussiert auf drei Problemfelder, die für den Alltag in Familien und Schulen besonders bedeutsam sind: Da sind erstens die Lern- und Leistungsstörungen. Die zweite Gruppe der psychischen Störungen umfasst sowohl sichtbare Auffälligkeiten wie aggressives Verhalten als auch nach innen gerichtete Störungen wie Ängste oder Depressionen. Als Drittes werden Ess- und Gewichtsprobleme untersucht. Damit ein derartiges Forschungsvorhaben brauchbare Ergebnisse liefert, müssen die Wissenschaftler Beobachtungen an sehr vielen Kindern und Jugendlichen sammeln; und dies nicht nur einmal, sondern immer wieder, um Veränderungen zu erfassen. Diese „längsschnittliche Sicht“ auf eine umfangreiche Stichprobe zu gewinnen, erfordert einen erheblichen Aufwand. Das Graduiertenkolleg konnte auf einer schon 2005 begonnenen, von der Universität im Rahmen eines Promotionsprogramms finanzierten Studie an heute 11- bis 19-Jährigen – der sogenannten PIER-Studie – aufbauen. Diese Gruppe umfasst inzwischen rund 1.500 Teilnehmer. Eine zweite Gruppe mit über 1.600 Erst- bis Drittklässlern kam 2012 hinzu. Zunächst galt es, das Einverständnis von Schulen und Eltern einzuholen. Für die Erhebungen wurden etwa 40 studentische Hilfskräfte rekrutiert und in dreitägigen Schulungen instruiert. In zweistündigen Einzelsitzungen stellen die Testleiter – Promovierende oder Hilfskräfte – jedem Kind Fragen nach Einstellungen, Gedanken oder Gefühlen, lassen es je nach Alter spielerisch aufbereitete Aufgaben am Computer lösen und filmen einzelne Szenen. Auch die Eltern und Lehrer füllen Fragebögen zu jedem Kind aus.

Der Aufwand lohnt sich. „Die gewonnenen Daten dienen als Grundlage für die Forschungsarbeiten im Rahmen des Graduiertenkollegs“, erklärt Juliane Felber, eine der beiden Koordinatorinnen des Projekts, „aber die Forschenden behalten immer auch das Ganze im Blick. Das Ergebnis ist mehr als nur die Summe verschiedener Teilprojekte.“ Bei Juliane Felber und Rebecca Bondü laufen alle logistischen und organisatorischen Fäden zusammen. Die Regale in Felbers Büro sind mit Reihen säuberlich gekennzeichneter Papierstapel gefüllt. Immer wieder klopft jemand an, um Unterlagen abzuholen, Fragen zu klären oder Termine zu regeln.

Im Frühjahr 2011 haben die ersten Doktorandinnen mit den Erhebungen begonnen. Inzwischen arbeitet ein Dutzend Nachwuchswissenschaftler an jeweils eigenen Projekten. Fidan Sahyazici-Knaak zum Beispiel untersucht bei den jugendlichen Probanden den Zusammenhang zwischen bestimmten Einstellungen – etwa einem übertriebenen Streben nach Perfektion oder anhaltenden Gefühlen der Hilflosigkeit – und der Entstehung von Depressionen bei kritischen Lebensereignissen. Sie nimmt sich deshalb die Befunde jener Kinder vor, die typische Anzeichen für den Rückzug nach innen wie Antriebslosigkeit oder Trübsal aufweisen, und stellt diese den Auskünften der Kinder über ihre Wahrnehmungen und Gefühle gegenüber. „Lange dachte man, Depressionen bei Kindern und Jugendlichen träten so gut wie gar nicht auf. Deshalb ist das Forschungsfeld zu diesem Thema mit etwa 20 Jahren vergleichsweise jung“, sagt Sahyazici-Knaak. Dass es den vermuteten Zusammenhang gibt, lässt sich aus den Daten der ersten Erhebung bereits ableiten. Erst der Längsschnitt wird jedoch zeigen, ob die ungünstigen Einstellungen den Rückzug in die innere Welt befördern oder sich umgekehrt als Folge depressiver Stimmungen ausbilden.

Franziska Stutz will in ihrer Dissertation empirisch der Annahme nachgehen, dass die Lesemotivation in ihren verschiedenen Ausprägungen eng mit der Lesekompetenz gekoppelt ist. „Wie oft liest du?“, gehört zu den Standardfragen der Erhebungen. Die Kinder können darauf mit Antwortkreisen in verschiedenen Größen reagieren. Bei Viellesern erkunden die Befrager, warum das so ist: Weil Lesen einfach Spaß macht? Oder eher, weil das Kind sich davon Anerkennung verspricht oder im Wettstreit mit anderen mithalten will? Von älteren Kindern weiß man, dass die Freude am Lesen für die Lesekompetenz bedeutsamer ist als äußere Anreize, weil sie dadurch häufiger von allein zum Buch greifen. Bei Leseanfängern geht man davon aus, dass der Lesevorgang durch häufiges Lesen besser automatisiert wird. Dies ist Voraussetzung dafür, dass im Gehirn Kapazitäten für tiefere Prozesse frei werden und das Textverständnis leichter fällt. Die ersten Ergebnisse von Franziska Stutz legen nahe, dass die eigene Motivation schon bei Erst- bis Drittklässlern die spätere Lesekompetenz begünstigt.

Anja Sperlichs Forschungstätigkeit spielt sich vorwiegend im „EyeLab“ der Universität ab. Während die Kinder im Labor altersgerechte Sätze aus Fibeln lesen, hält eine Spezialkamera im Abstand von einer Millisekunde jede Bewegung der Augen fest. Ein Computerprogramm analysiert das Wandern der Pupillen, registriert, wie lange der Blick an einer Stelle verweilt und ob er auch locker mal ein Wort überspringt. Die Auswertung dieser Daten gibt beispielsweise Aufschluss darüber, wie viele Wörter die Studienteilnehmer pro Minute gelesen haben und wie viele Buchstaben sie beim Lesen parallel verarbeiten können. Ihre Befunde bezieht Anja Sperlich auf Ergebnisse aus den Schultestungen. Unter anderem nutzt sie dabei die Lesetest-Ergebnisse, die auch Franziska Stutz verwendet.

Wenn das Graduiertenkolleg im September 2015 endet, werden alle gegenwärtig Promovierenden ihre Arbeiten abgeschlossen haben und bereits die nächsten ans Werk gegangen sein. Sollte das Kolleg, wie angestrebt, um weitere viereinhalb Jahre verlängert werden, würde zum Abschluss ein Datensatz über neun Jahre vorliegen, die kindliche Entwicklung vom Schuleintritt bis zum Ende der Pubertät wäre komplett abgedeckt. „Diese Daten sind mit Sicherheit auch für andere Wissenschaftler und für Praktiker interessant“, sagt die Sprecherin Birgit Elsner. In jedem Fall trägt das gemeinsame Programm der Potsdamer Psychologen dazu bei, den Kenntnisstand auf dem Gebiet zu erweitern. Birgit Elsner betont: „Kindheit und Jugendalter sind bedeutsame Phasen in der menschlichen Entwicklung. Unsere Forschung wird dazu beitragen, mögliche Probleme früh zu erkennen oder, noch besser, ihr Auftreten zu verhindern. Das ist eine wichtige Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft.“

Das Projekt

Graduiertenkolleg „Intrapersonale Entwicklungsrisiken des Kindes- und Jugendalters in längsschnittlicher Sicht“

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Graduiertenkolleg, das 13 Psychologen der Universität Potsdam 2011 auf den Weg gebracht haben und in dem zwölf junge Wissenschaftlerinnen ihre Promotionen erarbeiten. Die empirischen Daten liefert die mit dem Kolleg verbundene PIER-Studie (Potsdamer intrapersonale Entwicklungsrisiken, www.uni-potsdam.de/pier-studie), eine groß angelegte Untersuchung an insgesamt über 3.000 Schülern aus Potsdam und Umgebung. Ein breitgefächertes begleitendes Studienprogramm mit Seminaren, Workshops und einer Sommerschule vermittelt den Promovierenden das methodische Rüstzeug und eine projektübergreifende Sicht auf das Forschungsgebiet.

http://www.uni-potsdam.de/pier-studie

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr. Birgit Elsner lehrt und forscht seit 2007 am Departement Psychologie der Universität Potsdam. Seit 2008 leitet sie die Abteilung Entwicklungspsychologie. Ihr Interesse gilt hauptsächlich der kognitiven Entwicklung in den ersten Lebensjahren. Mit dem Graduiertenkolleg, als dessen Sprecherin sie amtiert, erweitert sie ihr Forschungsgebiet in den Altersbereich von Schulkindern und Jugendlichen.

Kontakt

Universität Potsdam
Departement Psychologie
Karl-Liebknecht Str. 24–25
14476 Potsdam
E-Mail: birgit.elsneruni-potsdamde

Veröffentlicht

Online-Redaktion

Julia Schwaibold