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Die Mathematik der Natur – Gunnar Lischeid erforscht die Umwelt mit modernen Methoden des Data-Minings

Soll bei Damerow. Foto: Carlos Miguel Acame Poveda.
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Soll bei Damerow. Foto: Carlos Miguel Acame Poveda.

Gunnar Lischeid ist ein Wissenschaftler, der gern den Überblick behält. Er bringt Ordnung in Unmengen von Daten, erkennt Muster, die neues Wissen bringen, und deckt auf, wie die Stoffkreisläufe in der Landschaft miteinander in Beziehung stehen. Am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg leitet er die Forschungsplattform „Daten“ und lehrt als Professor für Landschaftswasserhaushalt an der Universität Potsdam.

Seltene Moorfrösche oder Knoblauchkröten leben hier, ebenso wie die Rohrweihe oder die Wasserralle. Wassergefüllte Senken auf Äckern, die meist ein dichter Gürtel von Pflanzen umgibt, sind winzige Biotope – und dennoch wertvolle Ökosysteme in der Agrarlandschaft. Professor Gunnar Lischeid interessiert sich jedoch nicht nur für die hier lebenden Arten von Tieren, Pflanzen oder Mikroorganismen. Er möchte vor allem mehr über die Stoffkreisläufe in den Kleinstgewässern erfahren, die im Fachjargon Sölle heißen.

Denn diese sind überraschend intensiv und komplex – trotz der geringen Größe der Sölle von meist deutlich weniger als einem Hektar. Und vor allem sind die Messergebnisse der Forscher von Soll zu Soll verschieden. Einige Sölle dünsten Spurengase wie Methan aus, die zum Klimawandel beitragen – Methan ist 25 Mal so wirksam wie Kohlendioxid. Andere Sölle emittieren das Gas nicht. Warum das so ist, wissen die Forscher noch nicht. Das, was bisher über die Stoffumsätze und -kreisläufe dieser Gewässer bekannt ist, erklärt nur einen Bruchteil der gemessenen Daten. So zerbrechen die Wissenschaftler sich den Kopf darüber, warum die Daten nicht mit ihren Erwartungen übereinstimmen. „95 Prozent haben wir noch nicht verstanden“, sagt Lischeid. 

Die Forscher analysieren Wasserproben und Sedimentkerne, ermitteln den pH-Wert, die chemische Zusammensetzung oder untersuchen verschiedene Hypothesen mit Laborexperimenten. Doch Gunnar Lischeid versucht auch die restlichen 95 Prozent, die noch im Dunkeln liegen, zu verstehen. Und zwar über andere Wege jenseits des Messens und Zählens. Dabei geht es ihm und seinem Team weniger um einzelne Prozesse. „Wir wollen das Zusammenspiel vieler Prozesse untersuchen und diese auf einer größeren Skala – der Landschaft – begreifen.“

Sein größter Schatz sind dabei Langzeitdaten, die bereits seit Jahrzehnten erhoben und in umfangreichen Datenbanken gesammelt werden. Seine wichtigsten Instrumente sind die Mathematik und die Informatik. Mit modernen Methoden des Data-Minings sucht der Agraringenieur nach ganz neuen, bisher unbekannten Mustern und Zusammenhängen. Großen Datenbeständen rückt er mit hochkomplexen statistischen Methoden auf den Leib, um in ihnen nach neuem Wissen und neuen Erkenntnissen zu schürfen.

„In den Umweltwissenschaften sind diese neuen Methoden noch nicht so weit verbreitet“, erklärt Lischeid. Höchste Zeit, dass sich das ändert, meint der Wissenschaftler und führt auch gleich ein Beispiel dafür an, wie groß der Erkenntnisgewinn sein kann, wenn man die herkömmlichen Methoden durch Data-Mining ergänzt. In einem Waldgebiet Ostbayerns untersuchte Lischeid den Umsatz von Stickstoff, der über die Luft eingetragen und über das Grundwasser wieder abgegeben wird. Messungen in Bächen des Einzugsgebiets zeigten: „Ein Großteil des Stickstoffs verschwand einfach irgendwo.“ Die Forscher vermuteten, dass die Moorgebiete für den Abbau verantwortlich waren. Messungen zeigten jedoch, dass die Moore nur einen kleinen Teil des Stickstoffs abbauten.

Mit Statistik kam Gunnar Lischeid der Lösung des Rätsels schließlich näher: Sie offenbarte, dass der weitaus größte Teil des Stickstoffs im Waldboden und in den tieferen Bodenschichten oberhalb des Grundwasserspiegels abgebaut wird. Ein Prozess, der nach bisherigen Erkenntnissen eigentlich nur unter Sauerstoffmangel abläuft. Im Waldboden war jedoch reichlich Sauerstoff vorhanden. „Die Kollegen wollten das erst gar nicht glauben“, erinnert sich Lischeid. Weitere Messungen bestätigten das Ergebnis jedoch. Letztlich bauten Mikroorganismen in winzigen, sauerstofffreien Bodenaggregaten den Stickstoff ab. Ein Prozess, den man bis dahin völlig unterschätzt hatte. „Im Nachhinein ist alles schlüssig und logisch, aber man muss erst einmal darauf gestoßen werden.“

Und diese Denkanstöße kommen inzwischen immer häufiger über statistische Datenanalysen. Am ZALF soll das Management von großen Mengen an Forschungsdaten, ihre Analyse und Dokumentation künftig noch weiter forciert werden. Die Forschungsplattform „Daten“, die Gunnar Lischeid hier leitet, wurde als eine von sechs neuen Struktureinheiten in diesem Jahr gegründet. Große Datenmengen miteinander zu kombinieren – darin liege das große Potenzial der statistischen Methoden, mit denen sich heute komplexe Zusammenhänge erkennen lassen, ist Lischeid überzeugt. Mithilfe des Data-Minings könnten etwa Umweltbehörden, die immer anhand von Daten abwägen müssten, welche Entwicklungen schädlich sind und welche nicht, zu neuen, belastbareren Einschätzungen kommen. Wissenschaftler könnten besser verstehen, warum einige ihrer Modelle häufig danebenliegen. Und auch bei so besonderen Biotopen wie den Söllen könnte sich manches Geheimnis lüften lassen, wenn an der richtigen Datenschraube gedreht wird.

Kritische Schwellwerte, nichtlineare Prozesse oder komplexe Wechselwirkungen in Umweltsystemen sind Phänomene, die Gunnar Lischeid als Wissenschaftler faszinieren. Ihnen will er auf den Grund gehen. „Man hat keine Chance, da mit klassischen Methoden voranzukommen“, erklärt er. Dass es auch anders geht, habe ihm letztlich ein Kollege aus der Theoretischen Physik gezeigt.

Nun beschäftigt er sich mit so abenteuerlich klingenden Verfahren wie Künstlichen Neuronalen Netzen, Selbstorganisierenden Karten, Dimensionalitätsreduktion oder Sammon's Mapping – enorm leistungsfähige Analyseinstrumente, die viele Messgrößen sehr genau und schnell verarbeiten können. Am liebsten dreht und wendet er seine Daten in alle Richtungen, probiert, ob sich Muster mit der einen oder anderen Methode erkennen lassen, testet verschiedene grafische Darstellungen aus und sucht wie ein Detektiv nach Hinweisen für die Lösung von Problemen. Tagsüber bleibt ihm als Arbeitsgruppenleiter mit 22 Mitarbeitern dafür wenig Zeit, gesteht er. Doch wenn es abends ruhiger wird im Institut, widmet er sich den Diagrammen, Punktwolken und Kurven oder fuchst sich in neue Methoden ein.

Häufig ist das, was Gunnar Lischeid herausfindet, wenn er mit den Daten „spielt“, gar nicht so überraschend. Die Zusammenhänge, die sich neu auftun, sind oft logisch und einfach. „Da hätte man eigentlich selbst drauf kommen können“, lautet dann der erste Denkreflex. Dennoch lässt sich das bisherige Wissen anschließend neu bewerten und einordnen.

Das Forschungsfeld „Data Science“ boomt. Und doch leidet es unter Nachwuchssorgen. „In der Wirtschaft bekommen die jungen Wissenschaftler natürlich viel mehr Geld.“ Denn auch dort – in der Unternehmensberatung, im Marketing oder in der Industrie – werden Verfahren des Data- Minings gewinnbringend angewendet.

Die besten Ideen kommen Gunnar Lischeid übrigens beim Bahnfahren, verrät der Forscher. „Ich liebe Dienstreisen mit dem Zug.“ Dann hat er Zeit, Gedanken zu sortieren und weiterzuentwickeln. Dass er jeden Tag eine Stunde mit der Bahn nach Müncheberg pendelt, ist deshalb gar nicht so schlimm. Wenn die Sölle auf den Äckern an ihm vorbeiziehen, ist das das fruchtbarste Arbeitsklima für den Agrarforscher.

Das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) untersucht die nachhaltige Nutzung von Agrarlandschaften. Klimawandel, Ernährungssicherheit oder Schutz der Biodiversität sind dabei besondere gesellschaftliche Herausforderungen, die im Mittelpunkt der Forschung stehen. Das Institut in Müncheberg nahm seine Anfänge bereits in den 1920er Jahren und diente damals der Pflanzenzucht. Heute widmet es sich den natur- und sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Prozessen in Agrarlandschaften, den Wirkungen unterschiedlicher Nutzungen und den daraus entstehenden Nutzungskonflikten.

Das pearls – Potsdam Research Network vernetzt die Universität Potsdam und 21 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen am Wissenschaftsstandort Potsdam/Berlin. Schwerpunkte der Vernetzung sind Verbundforschungsprojekte, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie das gemeinsame Forschungsmarketing für den Standort Potsdam.

DER WISSENSCHAFTLER

Gunnar Lischeid studierte Landwirtschaft und Geologie, promovierte in den Forstwissenschaften und habilitierte als Hydrologe. Am ZALF leitet er seit 2018 die Forschungsplattform „Daten“ und ist Professor für Landschaftswasserhaushalt an der Universität Potsdam.
E-Mail: lischeidzalfde

In der Reihe „Perlen der Wissenschaft“ stellen wir regelmäßig Forscherpersönlichkeiten vor, die in einer der mit der Universität Potsdam vernetzten Forschungseinrichtungen des „pearls – Potsdam Research Network“ tätig sind.

Text: Heike Kampe
Online gestellt: Alina Grünky
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde