„Mai 68“
Von der Besetzung der Sorbonne über den landesweiten Generalstreik bis hin zur Auflösung der Nationalversammlung am Monatsende: an den Ereignissen des Monats Mai 1968 in Frankreich lassen sich tief greifende soziale, kulturelle und politische Umbrüche festmachen, die mit dem Kampf um Mitbestimmung, um bessere Arbeitsbedingungen und der Infragestellung von Machtverhältnissen ihren Ausgang nahmen.
So vielschichtig wie die damit verbundenen historischen Entwicklungen sind auch die Verwendungsweisen der Kurzform Mai 68, die als eigenständiger Begriff in den Wortschatz aufgenommen wurde. Einige Verwendungsbeispiele zeigen, dass sich der Begriff im Zuge dessen gewissermaßen verselbständigt hat und nun über die konkrete historische Angabe hinausgeht.1 Zum Beispiel ist Mai 68 in der Bedeutung ‘Revolte’ zählbar geworden und wird mit dem unbestimmten Artikel oder mit einem Zahlwort verwendet: Es kann einen Mai 68geben oder einen zweiten Mai 68. Andernorts ist dieser Mai 68 längst personifiziert, wird zu den Akteuren der jüngeren Geschichte gerechnet: Mai 68 [hat] die Demokratisierung weit vorangetrieben.
Was ist gemeint, wenn von Mai 68 oder einfach von 68(ern) die Rede ist? Wie lässt sich die Bedeutung des Begriffs beschreiben? Um zentrale Tendenzen herauszufinden, lohnt ein Blick auf die Wörter, die häufig im unmittelbaren Kontext verwendet werden, am Beispiel größerer Textsammlungen zum Beispiel der Zeitungssprache. So zeigt sich im Ergebnis der Statistik von Wortverbindungen, die in der Wochenzeitung DieZeit mit 68er vorkommen, dass Bewegung ganz vorn steht. Mit der 68er Bewegung wird die Dynamik der Ereignisse angesprochen, und zugleich die soziale Gruppe, die sie trug. Aber an der Spitze der Liste der häufig zusammen mit 68er verwendeten Wörter steht ein anderer, ebenfalls vielschichtiger Begriff: Generation (Zeit Korpus DiaCollo).
Nach Pierre Nora entsteht in Frankreich das moderne Verständnis des französischen Begriffs génération mit soziologischer, wirtschaftlicher, demographischer und historischer Bedeutung – inklusive seiner inflationären Verwendung – überhaupt erst in Folge von Mai 68.2
Dieser Zusammenhang zwischen historischem Ereignis und Generationszugehörigkeit macht die Frage interessant, welche Bedeutungen und Bewertungen – abseits der öffentlichen Erinnerung oder des journalistischen Sprachgebrauchs – der Begriff Mai 68 in der gesprochenen Sprache hat. Nicht nur was gemeint ist, wird aus dem Kontext deutlich, sondern auch, wie die Geschehnisse bewertet werden. So zeigen Beispiele aus dem Französischen3 schon an der Art und Weise, wie die Slogans von Mai 68 zitiert werden, die Identifikation eines früheren Akteurs mit den Geschehnissen oder die ironische Distanz einer Kritikerin.
Im Moment des Sprechens und des biographischen Erinnerns wird Mai 68 der eigenen Generation zugeschrieben (unsere Generation)oder abgrenzend der Generation der Jungen (mit ihren Slogans), oder – auf die eigene Familie bezogen – im Generationskonflikt mit streikenden Kindern in Verbindung gebracht: die historische Angabe wird dann zu einer sehr aktuellen Standortbestimmung, zu einer persönlichen Positionierung innerhalb oder außerhalb dieser 68er Generation.
(Prof. Dr. Annette Gerstenberg)
1 Deutsche Korpusbelege aus dem aggregierten Referenz- und Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache. www.dwds.de, abgerufen am 24. April 2018.
2 „La Génération“, in: ders. (Hrsg.): Les lieux de mémoire: III. Les France, 1. Conflits et partages, Paris: Gallimard, 1992, 931–971; 931.
3 Französische Korpusbelege aus dem Korpus LangAge (mehr unter www.uni-potsdam.de/langage).