Er hätte auch ins beschauliche Salzburg gehen können. Das verlockende Angebot eines etablierten, modernen Instituts in reizvoller Umgebung erreichte den Psychologen Reinhold Kliegl zeitgleich mit der Offerte, an einer gerade erst gegründeten Universität im Osten Deutschlands Pionierarbeit zu leisten. Er entschied sich für Potsdam, für die „Baustelle“ Golm.
Als Kliegl 1993 vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nach Potsdam wechselte, waren die Bedingungen am Neuen Palais und in Golm alles andere als komfortabel. Es regnete rein, man hauste in Containern, war permanent am Improvisieren. Dafür aber zeigten alle Forschungswege ins Offene. Der Professor für Allgemeine Psychologie sah die Möglichkeiten, entdeckte ungewöhnliche Schnittstellen und fand Kollegen, die wie er die Grenzen der eigenen Disziplin überschreiten wollten.
Das führte zu interessanten Allianzen mit der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, in der Kliegl auf den Physiker Jürgen Kurths traf. Gemeinsam mit ihm und dem Linguisten Gisbert Fanselow begann er fächerübergreifend kognitionswissenschaftlich zu forschen. Zu dritt schrieben sie in der Rekordzeit weniger Monate einen Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für eines der begehrten Innovationskollegs – und setzten sich gegen 60 andere Bewerber durch. Wohl auch, weil sie die damalige Universitätsleitung hinter sich wussten.
Hochkarätige Gastprofessuren wurden nun möglich. Psychologen arbeiteten mit Mathematikern, Linguisten mit Physikern und Biologen mit Informatikern zusammen, um die Leistungen des Gehirns, die Wahrnehmung und das Gedächtnis, das Denken, Fühlen und die Sprache besser zu verstehen. Eine groß angelegte Untersuchung von Blickbewegungen beim Lesen gab ihnen zum Beispiel darüber Aufschluss, welche Strategien Menschen entwickeln, um einen Satz wahrzunehmen, zu verstehen und schließlich im Gedächtnis zu behalten. Die mathematischen Modelle kognitiver Prozesse brachten dem 1994 gegründeten Interdisziplinären Zentrum für kognitive Studien weltweit höchste Anerkennung ein. Reinhold Kliegl wurde mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet und übernahm die Leitung einer DFG-Forschergruppe. Zusammen mit dem linguistischen Sonderforschungsbereich „Informationsstruktur“ war eine international konkurrenzfähige Basis geschaffen.
Heute bilden die Kognitionswissenschaften einen der vier profilgebenden Forschungsschwerpunkte der Universität Potsdam. In den interdisziplinär zusammengesetzten Teams arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Psychologie, Linguistik und Philosophie genauso wie aus den Sport- und Gesundheitswissenschaften. Prominentes Beispiel für die intensive Zusammenarbeit sind die beiden Sonderforschungsbereiche „Die Grenzen der Variabilität in der Sprache: Kognitive, grammatische und soziale Aspekte“ und „Datenassimilation – Die nahtlose Verschmelzung von Daten und Modellen“.
Dank einer jetzt verliehenen Seniorprofessur werden die Kognitionswissenschaften auch in Zukunft auf die Expertise und den reichen Erfahrungsschatz Reinhold Kliegls nicht verzichten müssen. Für die Seniorprofessur „Allgemeine Psychologie“ nahm Kliegl die Einladung des Sportwissenschaftlers Urs Granacher an, sich der Professur für Trainings- und Bewegungswissenschaften anzuschließen, um das Zusammenspiel von körperlicher und geistiger Fitness zu untersuchen. Und es gibt bereits erste Ergebnisse der Kooperation: Die schon seit zehn Jahren laufende EMOTIKON-Untersuchung motorischer Fitness Brandenburger Drittklässler erweist sich als ein „Frühwarnsystem“ für ungünstige Entwicklungen, die durch eine konzertierte Aktion von Eltern, Schulen, Ministerium, Landessportbund und Wissenschaft verhindert werden sollen. Ein weiterer Schwerpunkt wird die mathematische Modellierung der Trainingssteuerung bei Leistungsportlern sein. Dabei geht es vor allem um das optimale Timing von Belastung, Beanspruchung und Erholung. Die Ergebnisse könnten dann wiederum für den Erwerb kognitiver Fertigkeiten interessant sein.
Text: Antje Horn-Conrad
Online gestellt: Jana Scholz
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