Gesang ist die tragende Säule der georgischen Musik. Instrumente sind eher selten zu hören und wenn, dann begleiten sie die Stimmen. Mehrstimmig ist dieser Gesang, dessen Geschichte bis in vorchristliche Zeiten zurückreicht. Die Lieder sind jedoch nie dieselben: Von Generation zu Generation überliefert, verändern sie sich ständig. Seit 2001 gehört der georgische polyphone Gesang zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe. Der Geophysiker Prof. Dr. Frank Scherbaum und die Ethnomusikwissenschaftlerin Dr. Nana Mzhavanadze vom Institut für Geowissenschaften gehen dem Wesen dieser Musik im SeismoSoundScape-Labor in Golm auf den Grund.
Sanft und voll ertönt ihre Stimme, die großen graugrünen Augen suchen den Blick ihres Publikums, ihre Worte sind fremd und nah zugleich. Nana Mzhavanadze sitzt im SeismoSoundScape-Lab verkabelt am Laptop und singt ein altes Lied. In den Regalen um sie herum tümmeln sich unzählige Gegenstände: Kabel, Festplatten, Kopfhörer, Schrauben und Lötkolben. Kartons, Kleber und Sprays, dazwischen mehrere Computer und Monitore. Im SeismoSoundScape-Lab herrscht kreatives Chaos. Nicht überraschend, dass Frank Scherbaum die beiden Laborräume am Institut für Geowissenschaften liebevoll als „Spielwiese“ bezeichnet. Unterstützt von Informatikern und Mathematikern tüfteln hier Seismologen und Musikforscher an gemeinsamen Problemen. Diese fachübergreifende Zusammenarbeit ist bisher weltweit einmalig.
Doch wenn man zwei so unterschiedliche Disziplinen verbindet, warum wählt man ausgerechnet den georgischen Gesang als Forschungsgegenstand? „Das Land ist gerade einmal so groß wie Bayern, aber die Vielfalt an mehrstimmigen ist ungeheuerlich. Da kann einem ganz schwindelig werden“, sagt Frank Scherbaum und lächelt. Für den Geophysiker bedeutet das vor allem riesige Datenmengen. Digitalisiert können jedoch Musikwissenschaftler die Lieder ganz anders untersuchen und zum Beispiel phonetische Aspekte der Liedtexte im Zusammenspiel mit Melodien auswerten. Auch Betonung, Rhythmen, Genres und regionale Eigenheiten können sie sehr viel einfacher vergleichen. Schließlich gibt es Schlaf- und Klagelieder, Kriegs- und Wetterlieder. Und der Gesang unterscheidet sich deutlich innerhalb des Landes, das am Rande Europas, an der Grenze zu Asien liegt.
Weil sie dahin wollten, wo der Fluss seine Quelle hat, reisten Scherbaum und Mzhavanadze nach Swanetien, einer Region im Großen Kaukasus. „Die Swanen halten Traditionen lebendig“, erklärt Scherbaum. „Die vorchristliche Kultur ist allgegenwärtig.“ Den Forscherinnen und Forscher offenbart sich hier, im Nordwesten Georgiens, die älteste Schicht in der Geschichte der georgischen Mehrstimmigkeit. 2015 erprobten Scherbaum und Mzhavanadze die Idee, ein Kehlkopfmikrofon für die Aufzeichnung der Lieder zu verwenden. Nach dem Erfolg der Pilotstudie suchten sie im Jahr darauf mit Unterstützung der UP Transfer GmbH in Swanetien Lieder. Zehn Sängerinnen und Sänger haben sie bei ihrer damaligen ersten Geländeexpedition in den Großen Kaukasus gefunden, die jeweils zehn Lieder vor der Kamera interpretierten. Tonspuren, Videos und Interviews gingen in die Datensammlung ein. Jede Menge Futter für Scherbaums Computer.
Es erinnert ein bisschen an Kirchenmusik, wenn die georgischen Weisen erklingen: voller Kraft, Ruhe und Spiritualität. Doch der georgische Gesang unterscheidet sich stark von der westeuropäischen Choralmusik, die in Klöstern des 9. Jahrhunderts entstand. Und er ist viel älter. „Folklore ist keine temperierte Musik. Sie ist nicht in klare Intervalle geteilt“, sagt Mzhavanadze. Meist singen drei Menschen, mit einer Oberstimme, einer Bassstimme und einer Unterstimme. Die kleinste Einheit ist nicht der Halbtonschritt, sondern die Stimmen bewegen sich auch in flexiblen mikrotonalen Schritten. So können sehr viel mehr Harmonien, also Zusammenklänge, zwischen den einzelnen Stimmen entstehen – und Dissonanzen.
Würde Mzhavanadze eines der alten georgischen Lieder in das westliche Notationssystem übertragen, müsste sie sich immer entscheiden – zum Beispiel einen Bruchteil eines Tones höher oder tiefer rutschen. Und jeder, der ein Lied transkribiert, würde ein anderes, ungenaues Ergebnis erzielen. Denn jedes Ohr höre anders. „Der Computer bietet uns die Möglichkeit, nicht-westliche Musik auf eine unkonventionelle Weise zu repräsentieren“, sagt Mzhavanadze. Die Algorithmen können die Körperdaten, die Frank Scherbaum von den Sängerinnen und Sängern erhebt, präzise aufzeichnen. Das Ergebnis ist eine gerechnete, unverzerrte Visualisierung der Musik. Das ist etwas Besonderes, denn Objektivität bietet sonst nur das Notenblatt.
Vibrationen sind eine der Gemeinsamkeiten des menschlichen Körpers mit dem Erdinnern. Scherbaum lässt sich für die Analyse des georgischen Gesangs von seismischen Vorgängen wie Erdbeben oder vulkanischen Tremors inspirieren. Schließlich ähnelt die menschliche Stimme, die im Kehlkopf gebildet wird, einem vulkanischen Tremor – die Stimmbänder ziehen sich zusammen und die aus der Lunge strömende Luft versetzt die Stimmlippen in Schwingungen, bis sie sich wieder dehnen. Bei einem vulkanischen Tremor, einer zitterartigen Erschütterung des Vulkans, öffnen sich Klüfte im Gestein und lassen in rhythmischen Pulsen Gas entweichen. Dadurch entstehen obertonreiche Klänge, ähnlich wie bei der menschlichen Stimme oder einer Flöte.
Die Schwingungen im Kehlkopf, die den vulkanischen Tremoren so ähnlich sind, kann Scherbaum messen. Im SeismoSoundScape-Lab trägt Mzhavanadze einen schmalen, schwarzen Reifen um den Hals, mit Sensoren an beiden Enden: das besagte Kehlkopfmikrofon. Es zeichnet die Vibrationen der Stimmlippen auf und hilft damit den Forschenden, einzelne Stimmen voneinander zu trennen. Ein gewöhnliches Mikrofon zeichnet ständig Störsignale auf, weswegen Musikerinnen und Musiker bislang einzeln vorsingen mussten. Dank der im Golmer Labor entwickelten Idee, ein Kehlkopfmikrofon für die Datensammlung einzusetzen, können Scherbaum und Mzhavanadze nun das Zusammenspiel der Sänger beobachten.
So zeichnet ein Pulssensor an Mzhavanadzes Zeigefinger auch Veränderungen des Herzrhythmus auf, denn es wird vermutet, dass sich der Herzschlag der Sängerinnen und Sänger mit der Zeit synchronisiert. „Wir vermuten, dass die Musiker körperlich sehr stark aufeinander reagieren und dadurch besser improvisieren können“, erläutert Scherbaum. Der Seismologe beobachtet auch ganz genau, wann sich Musikerinnen und Musiker berühren. Eine Hand auf dem Rücken des Partners kann wie eine Art Vibrationsmesser helfen, dessen Tonlage zu erfassen und den eigenen Gesang anzupassen. Die Musikerinnen und Musiker treten in eine Form der nonverbalen Kommunikation, in der Blicke und Berührungen, Gestik und Mimik ihnen helfen, zusammen etwas Neues zu schaffen.
Diese nichtsprachliche, schöpferische Kraft fasziniert die Wissenschaftler – und das nicht erst seit Kurzem. „Ich habe gesungen, bevor ich laufen konnte“, sagt Mzhavanadze. Heute unterrichtet sie Scherbaum, der vor elf Jahren mit dem Singen begann. „Sie ist eine sehr strenge Lehrerin“, sagt der Geophysiker und lacht.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal 2/2019.
Text: Jana Scholz
Online gestellt: Jana Scholz
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